Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
dass das Leid bei uns einen höheren Stellenwert besitzt als stilles, angenehmes bloßes Dasein. Das Positive gilt als leicht, als unbedacht, als dümmlich, während das Gefühl des Unglücks als existentiell wichtig und richtig wahrgenommen wird. Der heitere Mensch erscheint in der Zeitung auf der Panoramaseite, die Heulsuse im Feuilleton.
Wollen wir tiefsinnig sein, sehen wir den Tod mit traurigem Blick als unausweichliche Quintessenz des Lebens, nicht das Leben als zu Glück und Demut verpflichtende, im besten Fall langjährige Chance. Vergnügen ist flach, Verzweiflung isttief. Wer immer das erfunden hat, zum Leben hatte er kein Talent. Er floh wahrscheinlich weinend in den tiefen Tann, wo ihn die Geister des Waldes in den Wahnsinn trieben.
Warum sollte man sich nicht wohlfühlen? Man kann das Leben auch als Glücksfall und jeden Moment der Abwesenheit von Leid als Geschenk des großen Grzlwmpf begreifen! Die Fähigkeit dazu ist allerdings selten. Sie beruht auf dem Gleichgewicht von Körpersäften rund um die Hypophyse. Natürlich ist sie nicht unabhängig von der Welt, denn der Wille zum Glück nimmt ab, wenn man unter einem fallenden Amboss steht. Dennoch beruht das Gefühl der inneren Zufriedenheit ausschließlich auf der Ausschüttung von Botenstoffen. Die Fähigkeit des Wohlfühlens kann insofern als autonome Leistung des Individuums gewertet werden. Wer’s kann, hat’s drauf! Respekt!
Ich selbst sehe das Leben keinesfalls als bloße Funktion der Verdauungsprozesse. Es ist zudem der Dialektik aus Liegen und Stehen unterworfen, deren große Synthese das Sitzen ist. ICH SEHE DIE WELT ALS LEBENSORT UND NICHT ALS STERBEHOSPIZ. Sie ist bunt. In Indien stehen Sadhus für 20 Jahre auf einem Bein, um den Göttern ihre unabdingbare Unterwerfung zu beweisen. Ich glaube: Wenn Gott gewollt hätte, dass wir auf einem Bein stehen, hätte er uns das zweite nur für Notfälle im Rucksack mitgegeben.
Die Welt ist rätselhaft, aber nicht ungemütlich. Fraglos gibt es unvorstellbares Leid, aber auch Fortschritt. Es gibt Blasensteine, aber auch Zahnersatz. Der Mensch erfand das Schießpulver und den Getreideanbau, das Massaker, den Luftangriff und den Raubmord, aber auch die Renaissance, das Kino und die dicke Daunendecke – und all diesaus purer Selbstsucht, für Geld, Ruhm, Eigennutz oder um die Bewunderung des anderen Geschlechtes zu erlangen – oder des eigenen, je nach Neigung.
Ich kann auf keinerlei große Lebenskrisen zurückgreifen, die mich befähigen würden, mich auf gute deutsche Art vom Dasein gebeutelt auskotzen zu können.
Ich habe niemanden umgebracht, ja nicht einmal bestohlen. Ich habe weder Drogen konsumiert noch Alkohol missbraucht. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie das gehen soll, Alkohol zu missbrauchen. Selbst wenn man sturzbesoffen die Kellertreppe runtertrudelt, weil das Gleichgewichtsorgan im Ohr ethanolbetäubt keine Signale mehr ausgesendet hat, ist das lediglich eine Folge des bestimmungsgemäßen Gebrauches eines rauscherzeugenden Genussmittels und keinesfalls eine Fehlfunktion im Sinne falscher Benutzung. Wer säuft, weiß um die Wirkung, spätestens beim zweiten Mal. Von Missbrauch keine Spur.
Ich trinke in Maßen. Mir wird viel zu schnell schlecht, als dass ich mich abfüllen könnte. Ich verliere außerdem ungern das Bewusstsein. Es ist mir peinlich, herumzulallen wie ein kleines Kind. Andererseits wäre es natürlich reizvoll, wenn man sich auf chemischem Wege in vergangene Lebenszustände beamen könnte. Man baut die Carrerabahn auf wie früher oder gießt, wie damals, Vaters Birnenschnaps in das Aquarium. Dann freut man sich der Ergebnisse der jugendlichen Forschung: rasende Kleinwagen und rückenschwimmende Fische.
07 49
Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind in der Vorratskammer nach einem versteckten Eingang in Batmans Versteck gesucht habe, leider vergeblich. Im Traum war mir damals klar geworden, dass sich exakt unter unserer Etagenwohnung eine riesige Höhle befindet, in der Batman sein Equipment ölt, pflegt und wienert. Schade, dass es sich um einen Irrtum handelte! In Wirklichkeit wohnte dort die mit Alkoholproblemen kämpfende Frau Höldervater. Sie war ständig im deliriumnahen Schwebezustand und glaubte wahrscheinlich ebenfalls an die Existenz einer Bat-Höhle unter ihrem Schlafzimmer. Dort allerdings wohnte, nach meiner heutigen Rechnung, Frau Rüdde, zweiter Stock, laut Selbstbezeichnung „Fräulein“ Rüdde, trotz des fortgeschrittenen Alters
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