Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
kämpfen werden.
Meine Zukunftsvisionen geraten in eine Sackgasse. Ich merke, dass ich mir die Welt der Zukunft ausschließlich als Irrenhaus vorstellen kann. Warum? Zumal schon der gedankenlose Gebrauch des Wortes „Irrenhaus“ politisch unkorrekt sein könnte. Kurzes Nachdenken – ja. Das ist er. Der Irre ist in der Tat lediglich ein Andersdenkender. Er denkt nicht wie der Rest der Gesellschaft und wird durch die Schlüsse, die er aus seinem Denken zieht, zum Außenstehenden, der, wenn er gefährlich ist, abgesondert werden muss. Gesund dagegen ist, was die Mächtigen in der Gesellschaft dazu erklären. Huh! Eine gute gesellschaftskritische Theorie, nicht ganz neu, aber ganz wunderbar! Das klingt nach Pflicht zum Widerstand. Ich merke, dass ich den Heldenmut in mir geweckt habe. Muss ich gleich aufbrechen in den antifaschistischen Kampf? Oder hat es Zeit bis zum Nachmittag?
Tatsache ist doch: Wer seinen Nachbarn zum Abendessen verzehrt, muss nicht notwendig krank sein. Vielleicht hat er lediglich seltene kulinarische Gelüste, verbunden mit einer geringen Fähigkeit zum Triebaufschub und fehlender sozialer Empathie.
Dass ich meinen Nachbarn nicht aufessen darf, ist nicht mehr als eine gesellschaftliche Norm. Man muss doch auch mal über die Stränge schlagen dürfen! Jeder, wie er mag. Der Nachbar sollte allerdings zustimmen und über die Zutaten aufgeklärt werden.
Ich würde meinen Nachbarn niemals essen. Er wäre mir zu fettig. Und mit Sicherheit zäh wie ein altes Fensterleder. Bah! Wer sich vornimmt, vegetarisch zu leben, solltesich meinen Nachbarn in einem Kochtopf vorstellen. Selbst ich, und ich bin begeisterter Fleischesser, kann mehrere Tage ohne Wurst und Hühnercurry leben, wenn ich mir den teigigen Herrn in einem Römertopf vergegenwärtige.
Ich möchte gar nicht wissen, was alles in einer Wurst landet, wenn in der großindustriellen Fertigung niemand zusieht. Und ich wette, dass sich die Mitarbeiter dort schon manchen Spaß erlaubt haben, vor allem wenn es darum ging, einer Leberwurst, die nur zu 30 Prozent aus Leber besteht, noch weitere Zutaten hinzuzufügen. Es ist unglaublich, welche Freude es geringbezahlten Arbeitskräften macht, überraschende Ingredienzen aus Rache für ihre schlechte Bezahlung in einem großen Bottich unwiederbringlich verkochen zu lassen.
Die Wurstfachkräfte sind sich ihrer Sache sicher. Sie wissen, dass sie nie erwischt werden. Und schon manch ein Wurstfachhersteller ist mit Sicherheit auf Ideen gekommen, die sich der Verbraucher gar nicht vorstellen kann – und will!
Meine Fantasie beginnt zu arbeiten. Von Nägeln, Münzen oder ganzen Fingern in der Wurst hat man schon oft gehört, das ist nicht originell. Viel spannender sind Dinge, die rückstandslos verkochen, also nie wieder gefunden werden können. Auch der Joghurt, den ich gerade zwischendurch verzehre, könnte solche Dinge enthalten. Er ist gelb. Und auf seiner Packung steht: Enthält Farbstoffe. Was ist ein Farbstoff? Ein Stoff, der färbt. Eine Flüssigkeit? Pulver? Glibber? Schmand? Gekröse?
Die beste Diät ist, sich vorzustellen, was sich im Inneren des Essens befindet, das man gerade zu sich nehmen möchte. Man schiebt die Mahlzeit auf, genießt die Stundenzwischen den Speisen und nimmt nur noch das Nötigste zu sich. In wenigen Monaten sieht man aus wie eine dieser lebenden Kleiderstangen, die sich zu Idolen unserer Minderjährigen hochgearbeitet haben: schlank, geradezu klapprig, skelettös. Der leere Gesichtsausdruck der Models ist selten Ausdruck von Coolness, sondern meist ein Zeichen für mangelnden Stoffwechsel. Auch den Gesichtsmuskeln fehlt die Versorgung mit Nährstoffen. Sie versuchen, Bewegung zu vermeiden. Die Haut spannt sich über hervorstehenden Wangenknochen. Viele Teenager fragen sich: Wie schaffe ich es, auch so auszusehen? Die Antwort ist einfach: Stellt euch vor, was in eurem Essen ist!
Ernährt euch von Gummibärchen. Das machen die Supermodels auch. Sie schwillen im Magen langsam an und zermürben so das Hungergefühl. Gummibärchen werden aus der Unterhaut von Rindern gefertigt. Das Glibberige unter der Haut der Viecher wird abgeschabt und in einem Schleimkochtopf zu Gelatine verarbeitet. Prionen tummeln sich und sehen einer blendenden Zukunft als Auslöser der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit entgegen. Wunderbar. Auch sie sind Gottes Kinder.
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Ich blättere in einer Zeitschrift. Meine Nachbarin pflegt seit Jahren die Gewohnheit, mir alte Illustrierte zum Lesen in die Hand
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