Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
unerheblich. Aber das Gefühl gibt den Ausschlag.
Sollte die Menschheit wirklich irgendwann so viel Öl sparen, dass ein klimatechnischer Effekt spürbar werden könnte, würde dadurch lediglich eins erreicht: Die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen würde sinken, das Öl mithin billiger und der Verbrauch in der Folge angeheizt. Wenn wir aber genug Öl verfeuern, wird das Öl bald so teuer sein, dass sich die Verbrennung nicht mehr lohnt. Am Ende kommt alles auf dasselbe hinaus.
Wir dämmen unsere Häuser, bis sie schimmeln und Frischluft künstlich zugefügt werden muss, wir bauen Pflanzen an, aus denen wir Ökokraftstoff gewinnen, und wundern uns über den Anstieg der Nahrungsmittelpreise, wir essen PCB-verseuchte Freilandeier und fliegen mit dem 30 Jahre alten Airbus in den Ökourlaub. Ein gutes Gefühl.
11 44
Es klingelt. Es ist einer der vielen Paketbriefträger, die bei uns ihre Runden drehen, ein Russe. Wir haben viele Paketdienste bei uns. Offensichtlich sind passend zur Thematik des Berufes (globale Logistik) auch die Zusteller aus aller Herren Länder. Wir haben auch einen Ghanaer, einen Letten, einen Polen, einen Kölner und einen, der sich selbst als Jugoslawen bezeichnet, er war wohl länger nicht mehr daheim.
Der Zusteller bringt die im Internet bestellten Gewürzdosen. Sein Gesichtsausdruck deutet an, welche Zumutung auch leichtere Pakete für einen Menschen darstellen, der seinen Wunschberuf verfehlt hat. Ich verstehe das. Auch ich hätte als Paketzusteller häufig schlechte Laune!
Allerdings ist die Paketzustellung ein wichtiges Puzzleteil im Rahmen der weltweiten Warenzirkulation. Bei über sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten kann nicht jeder eine herausragende Rolle spielen, aber jeder Einzelne ist Teil des Ganzen!
Jeder Mensch ist ein Künstler, sagte der große Josef Beuys. Jeder sollte seine Teilhabe am großen Ganzen im Rahmen seiner Tätigkeit als Paketzusteller als kreative Mitarbeit am Gesamtkunstwerk Menschheitsgesellschaft begreifen! Recht so! Beuys war allerdings der Meinung, dass für ein amtliches Kunstwerk auch Honigpumpen gebraucht würden sowie Fett, Filz, Paketband, Straßenbahnschienen, Hasenpelze, Schäferstöcke, Hüte und Gold. Ich glaube nicht, dass mein schlecht gelaunter Päckchenzusteller schon einmal unter dem Fehlen von Honigpumpen in seinem Leben gelitten hat. Die gesellschaftlichen Utopien gehen oft an den realen Lebensumständen russischer Paketboten vorbei.
Ich sage ihm, dass ich diesen Tag für einen ganz wunderbaren Tag halte, und verleihe meiner Hoffnung Ausdruck, dass er das genauso sehe. Er antwortet: „Ö.“ Das ist kurz, drückt aber eine souveräne Gleichgültigkeit aus. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich umschauen würde, würde hinter ihm eine Granate explodieren.
Er könnte auch Buddhist sein und erleuchtet. Allerdings funkelt in dieser Erleuchtung keine Heiterkeit. Vielleicht hat er auch einfach eine Muskelschwäche im Gesichtsbereich. Seine Maske verzeichnet keinerlei Muskelkontraktionen, seine Mimik verharrt bewegungslos und straff, wie bei sibirischen Lagerwächtern. Ich habe keine Ahnung von der Mimik sibirischer Lagerwächter. Aber ich habe eine Vorstellung. Man spürt, dass auch dieses Gesicht irgendwann Veränderung erfahren wird. Es wird eine Zeit kommen, da wird die Schwerkraft ihr Recht fordern. Dann werden die Lefzen nachgeben und Richtung Erdmittelpunkt streben. Dann wird er den Gesichtsausdruck des Schmerzensmannes tragen, wie wir ihn aus der Gotik kennen. Dann wird sein Äußeres das Innere perfekt illustrieren. Das ist durchdachtes Design, wenn die Form der Funktion folgt und das Wesen des Gestalteten verkörpert.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis es so weit ist, der Mann ist um die Vierzig, aber geschätzt trotz seiner Tätigkeit als Fahrer erst seit 15 oder 20 Jahren Alkoholiker. In diesem Alter arbeitet noch die Zunahme der Fettpolster gegen die zunehmende Schlaffheit der Muskulatur. Das wird nachlassen. Dann wird das griesig Graue, was früher ein Gesicht war, zerfließen, erst Falten bilden wie ein alter schmutziger Vorhang, dann vollends verwelken. Der Gang des Lebens. Er scheint sich in sein Schicksal ergebenzu haben. Gut so. Was bringt es, sich dem Unvermeidlichen zu verweigern?
Den Kräften, die auf einen einwirken, nachzugeben, sie aufzunehmen und zu absorbieren, das ist die hohe Kunst des Lebens! Das Leben ist wie eine japanische Kampfsportart. Optimistisch ruft man „Ajai!“, schlägt zu, bricht
Weitere Kostenlose Bücher