Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
sich die Hand, unterdrückt das Weinen und verlässt den Saal. Irgendwann lässt der Schmerz nach. Glück ist Abwesenheit von Leid. Bedürfnislosigkeit, würde der Dalai Lama sagen. Leider trägt der Dalai Lama keine Pakete aus. Warum eigentlich nicht?
Ich glaube nicht, dass unser Paketbote leidet. Er wirkt nicht so, als hätte sich eine Emotion in sein Leben verirrt. Die große Gleichgültigkeit, mit der er seinen Paketkarren hinter sich herzieht, wirkt wie aus einem Stück von Beckett. Was ihn von Godot unterscheidet? Godot kommt nicht, denn er hat kein Paket mehr, das er bringen könnte. Nicht einmal eine Postwurfsendung. Nichts. Überall nichts! In unserem System der Logistik schlummert überall ein Stück des großen Existenzialismus.
Ich öffne meine Gewürzdosen. Sie sind verbeult. Was für eine Symbolik! Ich bedanke mich bei meinem Schöpfer, dass er mir ermöglicht, das Große im Kleinen zu erkennen. Sind wir nicht irgendwie alle zerbeulte Dosen auf dem Weg zum Recyclinghof? Nicht? Dann nicht.
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Jetzt erst mal sitzen. Ich bin erschöpft. Vielleicht denke ich zu viel nach. Es gibt einfach zu viele ungeklärte Fragen: Gibt es einen Gott? Sind wir Monaden? Was juckt da so? Wassoll’s, wo bin ich, wer klingelt? Auf den Stufen zum Hauseingang sitzend beginne ich zu dösen.
Ich träume, ich wäre ein Paket. Gerade wurde ich abgegeben. Eine Frau hat mich angenommen, sie sieht aus wie meine Ex, nein, sie ist es, und sie ruft mir zu: „Du versuchst dich durch dein Paketsein deiner Verantwortung zu entziehen! Sei ein Mal im Leben ein Mann, und stehe zu dem, was du getan hast!“ Ich würde etwas sagen, bin aber völlig verklebt. Überall unzerreißbares Paketband, mehrere Lagen. Ich muss mir meine Antwort denken. Selbstbewusst, unerschrocken und in geradezu leuchtender gedanklicher Klarheit formuliere ich: „Du hast mich so lange kleingemacht, bis ich von einem stattlichen Kerl zu einem beigebraunen verklebten Kubus mutiert bin! Nun konfrontiere ich dich mit dem Ergebnis deiner Unmenschlichkeit, und du versuchst, von deiner Schuld abzulenken, indem du Vorwürfe ausspuckst. Das ist typisch! Das ist die Kontinuität in deinem Leben, dass du die ganze Niedertracht deiner eigenen Existenz nur aushältst, indem du die Schuld bei anderen suchst und denjenigen, die dich am meisten lieben, die Schuld an deiner Nichtigkeit aufbürdest! Deine Vorwürfe sind bittere Schreie nach Zuneigung, die du aufgrund deiner charakterlichen Missbildung niemals erhalten wirst. Du bist so armselig!“ Leider kann sie mich nicht hören. Wer hört schon, wenn Pakete sprechen?
Es gab eine Zeit, in der mir Menschen glaubhaft machen wollten, Postsendungen seien gute Gesprächspartner, aber das ist lange her, und diese Menschen rauchten Pflanzen.
Die Frau beginnt, mich mit einem stumpfen Teppichmesser aufzuschneiden. Kaum hat sie es geschafft, einen Ritz in mich zu machen, beginne ich zu bluten. „Klar!“,denke ich, „was hat sie erwartet?“ Ich sehe vielleicht aus wie ein Paket, aber ich lebe. Ich wusste, dass alles irgendwann einmal gewaltsam enden würde. Gott sei Dank ist der Mensch, wenn er erst einmal zum Paket geworden ist, nicht mehr in der Lage, Schmerz zu empfinden. Es gefällt mir, wie die trübe Flüssigkeit aus mir herausrinnt und den Teppichboden meiner Exfrau versaut. Das wird sie nie wieder herausbekommen. Infantile Freude macht sich breit.
Meine Ex schreit: „Was ist das?“ Wahrscheinlich hat sie das Paket nur aus Gewohnheit beschimpft, weil sie quasi reflexhaft Vorwürfe ausstößt, eigentlich aber erwartet, dass es sich um die übliche Sendung handelt, die alle paar Wochen ihre Rohstoffe bringt, Perlen, Lederbänder, Steine, bronzene Anhänger, die sie auf Frauenfädelabenden zu herrlichen Schmuckstücken verarbeitet. Frauen können so kreativ sein! Aber sie hassen es, wenn ihre Pakete bluten.
Sie spürt, wie sich der Herzschlag im Paket beschleunigt. So wie das Ding suppt, muss es bald leer sein. Ist das ein Gurgeln oder ein Stöhnen? Sie trägt das Ganze ins Badezimmer, wo die letzten roten Tropfen in der Duschtasse ablaufen. Es macht „Pfffff“, der letzte Seufzer eines Opfers, das sich hingegeben hat. Sie spürt, dass hier etwas zum Ende gekommen ist, und beginnt mit der Obduktion. Sie klappt das Paket auf und findet Lunge, Magen, Darm, Nieren, Leber und alles, was dazugehört, sowie meinen Personalausweis. Leider kann ich ihre Reaktion nicht mehr richtig erkennen, weil sich meine Augen im aufgeklappten
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