Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Licht kam von einigen Leuchtkugeln an der Decke, Luft aus schmalen Belüftungsschlitzen.
›Kneif mich‹, sagte Robert. ›Vielleicht habe ich ja wieder einen Fiebertraum.‹ Doch es war kein Fiebertraum, eher ein Albtraum, aber einer von denen, die man wirklich erlebt.
Wir durchstreiften unser Kerkerzimmer. Wenigstens war die bleierne Schwere aus unseren Beinen verschwunden. Es gab einen Tisch mit vier Stühlen. Vier Betten standen entlang der Wände, jedes mit einem Himmel aus dunklem Holz und einem karierten Vorhang an den Seitenteilen. Einer der Vorhänge war geschlossen.
Robert zog ihn ein wenig zurück, ließ ihn jedoch fast erschrocken wieder fallen.
›Da liegt jemand‹, flüsterte er. Natürlich lugte auch ich in das Bett. Da schlief ein blondes Mädchen. Es wirkte eigenartig blass, fast durchscheinend. Aber vielleicht war es das fahle Licht der Leuchtkugeln, das diesen Eindruck hervorrief.
Leise forschten wir weiter. Auf einem Regal türmten sich Brett- und Würfelspiele, auf einem anderen stand eine Reihe Bücher. Eine Kiste quoll über von Stofftieren, bei fast allen war der Plüsch schon ganz abgeschabt, als wären sie immer und immer wieder geknuddelt worden. Robert und ich hatten noch nie Spielzeug gehabt, jetzt hatten wir es im Überfluss, doch freuen konnten wir uns nicht darüber.
Was konnte Clarisse nur mit uns vorhaben? Warum hatte sie uns hergebracht? ›Vielleicht ist sie so wie in den Gruselgeschichten, die die Leute daheim immer erzählt haben‹, überlegte ich. ›Vielleicht will sie uns mästen und danach schlachten.‹
In das Bett mit den geschlossenen Vorhängen kam Bewegung. Das Mädchen dahinter gähnte und setzte sich auf. Spindeldürre weiße Beine kamen zum Vorschein, blaue Adern liefen sichtbar unter der dünnen Haut.
›Ihr seid nah dran‹, sagte sie mit vom Schlaf noch belegter Stimme. ›Clarisse will euer Blut. Sie braucht es für die Rosen. Damit die Rosen so schön rot werden.‹ Sie zog die Vorhänge zurück. Wie ein junges Gespenst sah sie aus, ganz weiß. Auch ihr Nachthemd war weiß, und weiß waren die Bandagen an ihren Unterarmen, die sie uns entgegenhielt. Weiß, bis auf ein paar rote Flecke. ›Sie zapft uns Blut ab. Fast jeden Tag. Das gibt sie in die Bewässerungsanlage für die Rosenfelder. Niemand weiß, wie viele Kinder sie schon verbraucht hat. Zurzeit bin ich an der Reihe. Ich sterbe bald. Danach seid ihr dran.‹ Sie erhob sich und glitt durch das Zimmer ins Bad. Robert und ich sahen ihr nach, unfähig, auch nur einen Laut von uns zu geben.
Als sie nach einer ganzen Weile gewaschen und angezogen zurückkam, saßen wir immer noch stumm da. ›Es wird schwieriger für sie, geeignete Kinder zu finden‹, fuhr sie in ihren Erklärungen fort, als hätte sie diese nie unterbrochen. ›Warum, weiß ich nicht und Clarisse weiß es auch nicht. Aber sie hat deswegen oft schlechte Laune. Also reizt sie nicht. Sie kann gemein werden.‹
›Ha‹, machte Robert.
›Früher waren hier, glaube ich, immer vier Kinder. Als ich ankam, waren wir zu dritt. Dann lange Zeit zu zweit. Und seit vielen Wochen bin ich allein. Dass sie gleich zwei geeignete Blutspender gefunden hat, ist ein Riesenglücksfall für Clarisse. Ich heiße übrigens Rosa. Ist das nicht ein guter Witz?‹ Sie lächelte freudlos.
›Mièle‹, krächzte ich und räusperte mich, aber meine Stimme wurde nicht klarer. ›Du erzählst uns doch Gruselmärchen!‹
Rosa antwortete nicht. Sie sah uns nur an.
›Nein‹, rief Robert dumpf, ›das ist kein Märchen! So kriegt das alles einen Sinn! Die Blutproben und dass sie nur uns aus dem Lager mitgenommen hat!‹
Rosa nickte. ›Blutproben macht sie immer. Und sie sucht sich auch immer Waisenkinder. Mich hat sie in einem Waisenhaus im Norden gefunden. Ich dachte, ich hätte das große Los gezogen, als sie mich mitnahm.‹
Waisenkinder! Deshalb hatte sie so zufrieden gewirkt, als ich gesagt hatte, wir seien ganz allein auf der Welt. Aber wir hatten noch einen Trumpf. Sie wusste nichts von Jovinda. Irgendwie mussten wir es schaffen, Jovinda eine Nachricht zukommen zu lassen.
Ich nahm Roberts Hand. ›Wir kommen hier raus‹, versprach ich.
›Jeder kommt hier raus‹, sagte Rosa düster. ›Aber keiner lebend.‹«
»Aber keiner lebend!«, flüsterten die Rattenkinder.
»Wir schon, wollte ich widersprechen, doch Rosa brach in Tränen aus und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Kleiderbündel, das Robert achtlos auf eins der Betten geworfen
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