Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
hatte.
›Du hast Cassios Kleider!‹, rief sie. ›Sie hat dir Cassios Sachen gegeben! Das da war seine Lieblingshose und auf das blaue Hemd war er unheimlich stolz!‹
Und dann tat sie etwas sehr Seltsames. Sie griff unter ihr Bett und zog zwei kleine Holzbecher hervor. Vom vielen Gebrauch waren sie ganz dünn, fast wie Porzellan. Rosa hob die Becher an ihre Augen. Ich schrie entsetzt auf, glaubte, sie sei verrückt geworden und wolle irgendetwas Schreckliches mit ihren Augen anstellen. Doch sie hielt die beiden Becher nur an die unteren Lider, beugte den Kopf und weinte weiter.
Wir brauchten eine Weile, um zu verstehen – sie fing ihre Tränen auf! Sie weinte und weinte, bis keine Tränen mehr kamen, stellte die Becher weg und schnäuzte sich.
›Es werden immer weniger‹, sagte sie, als sie prüfend in die Becher schaute. ›Meine Tränen werden immer weniger, genau wie mein Blut.‹ Ihre Lippen zitterten. Schnell hielt sie sich die Becher wieder unter die Augen und fing noch ein, zwei Tränen auf. Als sie sicher war, dass nichts nachkommen würde, ließ sie das bisschen Flüssigkeit in einen Becher zusammenfließen.
Fasziniert und befremdet schauten wir ihr bei diesem seltsamen Treiben zu. ›Ihr müsst das auch tun‹, sagte sie. ›Es ist die einzige Hoffnung, die wir gegen Clarisse haben. Seid ihr bereit für den Schwur?‹
Schwur? Wir wussten nicht, was sie da redete, aber wir waren zu allem bereit, was eine Waffe gegen Clarisse versprach.
›Kommt mit!‹ Rosa nahm den Becher mit den Tränen, führte uns ins Badezimmer und hockte sich dort auf den Boden, griff unter den Badezuber und löste ein Dielenbrett. Aus der Höhlung zog sie ein Glasfläschchen hervor. Ein weiteres folgte und noch einmal zwei. Rosas Hand tastete weiter.
›Da sind noch zwei leere drin, das reicht fürs Erste. Sie stammen aus dem Behandlungszimmer. Clarisse sammelt unser Blut darin. Manchmal, wenn sie nicht aufpasst, kann man ein leeres mitgehen lassen. Sie hat viele davon und bemerkt es nicht.‹
Rosa öffnete eins der vier Fläschchen und ließ mit einem Geschick, das viel Übung verriet, die Tränenflüssigkeit aus dem Becher in die kleine Flasche laufen. Dann hielt sie das Fläschchen ans Licht, es war gefüllt bis unter den Hals. ›Sehr gut‹, sagte sie befriedigt und stöpselte es zu. ›Am Tag eurer Ankunft können wir mit einem neuen Tränenfläschchen beginnen. Das ist vielleicht ein gutes Zeichen.‹
Robert nahm nacheinander die kleinen Glasgefäße hoch und hielt sie ins Licht der Leuchtkugeln. ›Sind das alles Tränen?‹
Rosa nickte. ›Vor langer Zeit, als Clarisse mit den Rosen erst anfing und noch nicht so perfekt eingerichtet war wie heute, hatte sie ein Kind gefangen, dessen Blut sie immer direkt in den Bottich für das Gießwasser tropfen ließ. Das Kind weinte oft. Doch wenn seine Tränen in das Wasser fielen, wurde Clarisse schrecklich wütend. Tränen würden ihre Rosen umbringen, schrie sie, kippte das Wasser weg und ließ das Kind noch einmal bluten. Es war das erste, das damit begann, seine Tränen zu sammeln, damals nur in diesem hölzernen Becher. Wir wissen seinen Namen nicht, auch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Irgendwann wird ein Kind Glück haben. Es wird den Turm verlassen können und die Tränen von allen Kindern, die Clarisse ermordet hat, in die Bewässerungsanlage gießen. Dann werden die Rosen sterben. Vielleicht werdet ihr beide das tun. Vielleicht nur einer von euch. Vielleicht auch andere, die nach euch kommen. Auf jeden Fall müsst ihr eure Nachfolger in den Plan einweihen, so wie ich das heute mit euch tue. Versprecht ihr das?‹
Wir nickten ernst.
›Und jetzt der Schwur‹, sagte Rosa mit ernstem Gesicht. ›Reicht mir eure Hände, schaut auf die Fläschchen und sprecht mir nach: Im Namen von Mannis, Olivia, Pedro, Lavinia, Eshrem, Cassio und aller, deren Namen niemand mehr kennt …‹
›Im Namen von Mannis, Olivia, Pedro, Lavinia, Eshrem, Cassio und aller, deren Namen niemand mehr kennt‹, wiederholten wir feierlich.
›… schwören wir, die Rosen zu verderben und Clarisse zu töten. Wir werden nicht ruhen, bis Clarisse tot ist und alle Kinder gerächt sind!‹
Rosa sprach in einem feierlichen Singsang und wir taten es ihr nach. Es war uns ernst damit, todernst. Wir würden vielleicht in diesem Turm sterben, dann würden andere nach uns kommen und den Eid schwören. Wenn wir aber entkommen sollten, dann würden wir sie rächen, diese Kinder, von denen
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