Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
und bedeutete ihr, jetzt durch den Spalt nach unten zu schauen. Der Rauch hatte sich verzogen. Lulu kroch dichter an das Fenster, hob ein wenig den Kopf und spähte hinunter in das Atelier. Und fast hätte sie doch geschrien. Ganz sicher hätte sie es getan, wenn Rafaela sie nicht vorgewarnt hätte. Prinz Dorvid saß fast genau unter ihr und blickte in einen Spiegel. Rafaela hatte nicht übertrieben, er war völlig entstellt. Sein Gesicht war rot aufgeschwollen und über und über mit Pusteln bedeckt.
»Nein!«, schrie der Ärmste und hämmerte mit den Fäusten auf die Spiegelkonsole. »O nein! Nichts ist besser geworden. Gar nichts! Ihr seid mit Euren Hexenkünsten am Ende, Graviata!«
»Ich habe mit meinen Hexenkünsten noch nicht einmal angefangen, Hoheit.«
Auch Graviata war nun zu sehen. Sie trat hinter ihn und legte ihm sanft die Hände auf die Schultern. Lulu und Rafaela zuckten zurück und drückten sich platt aufs Dach, darauf gefasst, die schneidende Stimme ihrer Mutter zu hören, die sie ins Bett schickte und für den nächsten Tag entsetzliche Strafen ankündigte. Doch nichts dergleichen geschah. Graviata hatte sie nicht bemerkt.
»Die Salbe wirkt. Hier oben, seht Ihr, da ist eine kleine Stelle, die vor dem Auftragen noch befallen war. Nun ist sie rein.«
»Die Stelle ist winzig, Graviata, kaum sichtbar. Wenn Ihr in diesem Tempo weitermacht, dauert meine Heilung eine Ewigkeit. Habt Ihr vergessen, dass ich mich in wenigen Wochen verheiraten will?«
Graviata schien zu überlegen. »Also gut, Hoheit, seid Ihr bereit für ein stärkeres Mittel?«
»Habt Ihr das gemeint, als Ihr sagtet, dass Ihr mit Euren Hexenkünsten noch nicht einmal angefangen hättet?«
»Ganz recht. Soll ich beginnen?«
»Ich bitte Euch darum, Graviata. Worauf wartet Ihr noch? Ganz egal, was es ist und wie schlimm es wird, schlimmer als dies hier kann es nicht werden!«
»Nun, dann zieht Euch aus!«
»Wie bitte?«
»Legt Eure Kleider ab.«
»Die Wäsche auch?«
»Alles.«
Der Prinz schien zu gehorchen. Lulu und Rafaela wussten, dass es ganz und gar ungehörig war, jetzt zu spionieren, und doch schoben sie sich wieder dicht ans Fenster und schauten hinunter. Der Prinz stand fast genau unter ihnen. Er war nackt, ein rundlicher, junger Mann mit sehr weißer Haut, ein paar schwarzen Haaren auf Brust und Beinen und schwarzem Kopfhaar. Der hässliche Ausschlag setzte sich am Körper fort, wenn auch nicht ganz so schlimm wie im Gesicht. Er stand da mit hängenden Schultern, das Gesicht zum Boden gesenkt, die Hände über dem Geschlecht gefaltet. Von Majestät keine Spur, nur ein bedauernswerter Junge, der sich seiner Blöße schämte.
Lulu schämte sich auch und wollte sich zurückziehen, doch was sie sah, ließ sie erstarren.
Graviata sprang hinzu. Sicher war es Graviata, wer sollte es sonst sein? Doch sie war es auch wieder nicht. Sie war ein … ein fremdes Wesen, in Felle gehüllt, Wolfsfelle, mit Köpfen und Pfoten, die zuckten wild, fast so, als ob sie ein eigenes Leben hätten. Die Wolfsfrau umrundete den Prinzen, geschmeidig, gefährlich, immer einen Fuß genau vor den anderen setzend, wie Wölfe es tun. Sie sprach in Worten der Hexensprache mit einer Stimme tief aus der Kehle, nicht wie die ihrer Mutter, nicht wie die eines Menschen – es war ein Grollen, das Knurren eines wütenden Tieres. Sie fuchtelte mit einem Gegenstand herum, und Lulu erkannte darin die Blechdose mit den Löchern im Deckel, die sie zum Befeuchten der Bügelwäsche benutzten.
»Vagate selem, verrochen de vagate!« So oder ähnlich lauteten die Worte der Wolfsfrau. Immer wieder knurrte sie diese Worte, immer schneller, immer bösartiger.
Der Prinz schwankte im Rhythmus, vergaß, wo und wie und wer er war. »Vagate!« , murmelte er. »Verrochen de vagate!«
Graviatas Sprünge wurden schneller, enger zog sie den Kreis.
»Verrochen de vagate« , heulten beide, »selem de vagate!« Der Prinz zuckte, torkelte, Graviata reckte die Arme und ließ schwarzes Pulver aus der Blechdose regnen.
»Vagate!« , schrie der Prinz, spuckte in die Hände und rieb sich das Pulver ins Gesicht, auf den Körper, er heulte und tanzte seinen irren Tanz.
Graviata riss den Deckel ab und warf den schwarzen Staub mit vollen Händen in die Höhe. Die Luft um sie herum schwirrte, Rauch entstand, sich windende Rauchsäulen ohne Feuer, und Graviata tanzte mit dem Rauch.
Entsetzt sahen die Mädchen, wie ihre Mutter sich in eine Wölfin verwandelte. Sie wollten fliehen, sie
Weitere Kostenlose Bücher