Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
unbestimmte Bewegung mit dem Kopf, gerade so wie Wanda, als sie durch ihre ärmliche Siedlung gelaufen waren.
»Draußen am Stadtrand«, sagte er. »Ist ziemlich weit.« Es war allzu offensichtlich, dass er keinen Wert auf ihre Begleitung legte.
Vermutlich lebt er in einem ganz miesen Loch und schämt sich dafür, dachte Lulu. Doch sie akzeptierte gern das Geschenk, das er ihr bot, eine neue Folge von »Serafia und der König«. Sie würde sie abends im Bett anschauen, wenn sie mal wieder vor lauter Grübeln nicht einschlafen konnte. Rafaela packte ihren »Slavendrian« ein. Das waren sehr großzügige Geschenke von Damiano. Die Singenden und Sprechenden Bücher waren seine teuerste Ware und sein bestes Geschäft. Corina bekam eine Glitzerperle. Sie packte sie mit dem Schnabel, drehte noch eine kleine Abschiedsrunde über dem Markt und schloss sich dann einer Krähenschar an, die hoch über den Dächern auf die Spitze eines alten Turms zuflog.
»Ralf behalte ich bei mir«, sagte Damiano. Er band die Leine um den Griff seines Karrens und wollte sich aufmachen, doch Rafaela hielt ihn zurück.
»Warte«, sagte sie, »wir müssen dir etwas geben.« Sie fischte das Säckchen mit dem Amulett aus ihrer Rocktasche, zog das Amulett heraus und reichte es ihrem Bruder.
»Du musst es immer tragen. Mama hat für jeden von uns eines gemacht. Sie sagt, dass die Amulette uns beschützen werden, wenn sie selbst es nicht mehr kann.«
»Was soll das?«, rief Damiano empört. »Ich will nichts zu tun haben mit euren Hexengeschichten!« Er warf nur einen kurzen Blick auf das Amulett und ließ es angewidert fallen.
Lulu hob es auf, nahm seine Hand, legte das Amulett hinein und schloss seine Finger darum.
»Damiano«, sagte sie ernst, »trag es!«
Er öffnete die Faust und schaute das Schmuckstück noch einmal an.
»Na gut, ist ja gar nicht so hässlich, wie ich zuerst glaubte«, brummelte er. Doch er legte es nicht um den Hals, sondern steckte es in die Hosentasche.
»Trag es!«, wiederholte Lulu.
»Tu ich doch«, grinste er und klopfte auf die Tasche. »Kommt ihr morgen wieder vorbei?«
Lulu und Rafaela nickten. Sie sahen ihm nach, wie er seinen Karren geschickt zwischen den Buden hindurchmanövrierte. Ralf zockelte neben ihm her. Er schaute sich nicht mal nach den Mädchen um. So sind Waschbären, undankbare Viecher.
Auch die Mädchen gingen heim, still, jedes für sich in seine Gedanken versunken. Die Gesindesiedlung war jetzt belebter als am Mittag. Essensgerüche waberten durch die Luft, Familien hockten vor den Häusern oder standen in Gruppen herum, Gespräche, Lachen, Musik erfüllten die Dämmerung. Die Mädchen merkten wenig davon. Sie waren so in ihre Gedanken vertieft, dass sie an der Schlachterei vorbeiliefen, irgendwo falsch abbogen, umkehren und sich durchfragen mussten. Als sie endlich die Palastgärten erreichten, atmeten sie auf, waren zum ersten Mal dankbar für den Luxus und die gepflegte Ruhe.
»Bumbum?«, fragte Bumbum, der an Graviatas Hand aus dem Haus kam, um sie zu begrüßen.
»Er wollte lieber bei Damiano bleiben. Er ist jetzt wieder glücklich«, antwortete Lulu. »Wir besuchen ihn morgen. Wenn Mama es erlaubt, kannst du mitkommen.«
Graviata nickte kaum merklich und blickte fragend Rafaela an.
»Ich hab ihm das Amulett gegeben. Er hat es in seine Hosentasche gesteckt.«
»Er sollte es um den Hals tragen«, sagte sie ärgerlich.
»Und du solltest nicht immer so geheimnisvoll tun«, schnauzte Rafaela ihre Mutter an. »Es wäre dir doch kein Zacken aus der Krone gebrochen, wenn du uns gesagt hättest, dass er Marktverkäufer statt Gelehrter geworden ist.«
»Ihr habt es ja auch ohne meine Hilfe herausgefunden«, antwortete sie ungewöhnlich milde.
Sie setzten sich zu Tisch. Es gab Suppe, Pasteten, Salat und zum Nachtisch Heidelbeerkuchen mit Schlagsahne. Lulu und Bumbum amüsierten sich, indem sie sich gegenseitig ihre blauen Zungen herausstreckten. Meister Voss war ja nicht da. Zum Glück hatte er die Abendmahlzeit noch nicht in seine täglichen Lektionen eingeschlossen.
Nach dem Essen kuschelten sich die Kinder unter einer Wolldecke auf der Veranda zusammen und schauten bei Kerzenlicht das neue Serafia-Buch an. Es war ein schöner Herbstabend. Die Luft war kühl und würzig, in den Kiefern nah beim Haus rief ein Käuzchen. Murks pirschte über die Wiese. Im Hinterhof schwatzten die Dienstboten, in der Küche werkelten die Helferlein. Der Geruch von Manfredos und Elses Zigarren vermischte
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