Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Sie ging voraus, durch eine Pforte in der gegenüberliegenden Mauer, auf einen schmalen Pfad zwischen Gebüsch und kratzigem Gesträuch, das nach Abfall roch. Vermutlich wurde das Gelände als Müllplatz genutzt.
»Hier geht’s zu unserer Siedlung«, erklärte Wanda. »Da wohnen fast alle, die im Palast arbeiten, sogar die Wachsoldaten. Ist ganz in Ordnung hier«, fügte sie hinzu, als müsse sie den schmuddeligen Weg entschuldigen.
Der Pfad führte auf die Rückfront vieler kleiner, niedriger Steinhäuser zu, alle aneinandergebaut, alle gleich. Sogar die Gärten hinter den Häusern waren gleich: viereckig, mit Stangenzäunen abgegrenzt, Klohäuschen im hintersten Winkel, Wäscheleine am Haus und zwei Beete mit überall den gleichen Gemüsen, Kohl, Zwiebeln, Karotten und Bohnen. Lulu fragte sich, wie die Leute, die hier wohnten, bei all dem Einerlei je ihr eigenes Haus finden konnten und was Wanda dabei empfand, hier zu wohnen und in einem Haus im Palastgarten zu arbeiten. Lulu hätte sich gehasst, wenn sie an Wandas Stelle gewesen wäre, doch der schienen solche Gefühle unbekannt zu sein. Sie führte die Mädchen durch einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häuserreihen auf eine breite, staubige Straße. Erstaunt sahen Lulu und Rafaela, dass sie nur einen Zipfel der Siedlung gestreift hatten. Überall von der breiten Straße zweigten schmale Straßen ab, alle mit diesen langen Häuserreihen. Manchmal gab es ein größeres Gebäude, das anders aussah, aber nur sehr selten.
»Ich wohne da drüben«, sagte Wanda und zeigte mit dem Kopf in eine unbestimmte Richtung. »Ihr braucht nur immer der breiten Straße nachzugehen, bis zum großen Tor. Dahinter liegt die Gerbergasse. Die geht ihr geradeaus durch zum Hauptmarkt. Wenn ihr heute Abend zurückkommt, müsst ihr auf dieses Gebäude achten.« Sie zeigte auf einen unansehnlichen steinernen Würfel mit ein paar vergitterten Fenstern. Ein unangenehmer Geruch wehte von dort herüber. Der Traurige Ralf zog panisch an seinem Halsband und wollte nichts wie weg.
»Das ist die Schlachterei«, fuhr sie fort. »Merkt euch die. Genau gegenüber liegt der Durchgang, durch den wir gerade gekommen sind. Wohin wollt ihr eigentlich in der Stadt?«
»Zu unserem Bruder Damiano. Er studiert in der Akadamie«, sagte Rafaela wichtig.
»Das heißt Akademie«, verbesserte Wanda. »Ihr seid komische Leute. Ihr seid reich und berühmt und könnt zaubern, aber ihr könnt nicht lesen und nicht schreiben. Stört euch das nicht?«
»Warum sollte es?«, fragte Rafaela gleichmütig, aber sie war rot geworden, als Wanda sie verbessert hatte.
»In welcher Akademie studiert euer Bruder?«
»Gibt es denn mehrere?«
»Du liebe Güte!« Wanda verdrehte die Augen. »Es gibt drei große in der Innenstadt: ›Unter den Linden‹, ›Weisheit des Lichts‹ und ›Bruder Asmus‹. Und dann gibt es noch mal fünf in den Außenbezirken, da weiß ich aber nicht, wie sie heißen.«
»O nein«, sagte Lulu. Sie hatte keine Ahnung, an welcher dieser Akademien Damiano war. Und Rafaela wusste es auch nicht.
»Dann bleibt euch nichts übrig, als sie der Reihe nach abzuklappern«, meinte Wanda. »Fangt mit ›Weisheit des Lichts‹ an. Das ist die größte und berühmteste. Sie liegt gleich hinter dem Hauptmarkt. Wenn er dort nicht ist, fragt euch zu den anderen durch. Aber denkt dran: nicht Akadamie, sondern …
»Akademie«, ergänzten Lulu und Rafaela im Chor. Sie bedankten sich bei Wanda und zogen los, allerdings etwas bedrückt. Wenn sie nicht außergewöhnliches Glück hätten, würden sie lange nach Damiano suchen. Sie wanderten über die staubige Straße in der Richtung, die Wanda ihnen gewiesen hatte. Die Siedlung wirkte verwaist, nur ein paar alte Leute saßen vor den Häuschen und sahen neugierig den beiden fremden Mädchen nach, von denen eines eine Krähe auf der Schulter trug und das andere einen Waschbären an der Leine führte.
Die Straße endete am großen Tor, wie Wanda gesagt hatte. Sie gingen hindurch, hetzten durch die bestialisch stinkende Gerbergasse, die ihren Namen nicht durch Zufall hatte – der Traurige Ralf zog an seiner Leine, als wären sämtliche Teufel hinter ihm her –, und traten ein in das Gewühl des Hauptmarktes.
Und dann hatten sie doch außergewöhnliches Glück, zumindest dachten sie am Anfang, dass es außergewöhnliches Glück sei. Denn kaum hatten sie den Markt betreten, stieß der Traurige Ralf einen herzzerreißenden Schrei aus, was Waschbären sonst nie tun,
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