Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
könnten sie es immer noch mit Gold versuchen. Dann hielten sie Kriegsrat, ob sie Bumbum mitnehmen oder ihn in der Obhut von Else, Wanda und Manfredo lassen sollten. Sie betrachteten ihre Dienstboten mittlerweile eher als Freunde denn als Diener, und sie zweifelten keinen Augenblick, dass Bumbum bei ihnen gut aufgehoben wäre. Andererseits war es ein komisches Gefühl, den Kleinen zurückzulassen. Aber sie hatten auch ein komisches Gefühl bei der Vorstellung, ihn an so einen gruseligen Ort wie den Felsenkerker mitzunehmen. Und sie mussten schnell sein. Es war schon mitten am Nachmittag, es war Herbst, die Tage wurden kürzer. Corina war auf Tageslicht angewiesen, sie konnte in der Dunkelheit nicht fliegen. Bumbum würde sie aufhalten, selbst wenn sie ihn in seinen Wagen setzen und hinter sich herziehen würden. Also küssten sie ihn zum Abschied, versprachen, dass sie bald zurück sein würden, und ließen sich von Manfredo den Weg zum Felsenkerker beschreiben. Er schien nicht allzu weit von der Hüttensiedlung zu liegen, in der Damiano mit Nanette gehaust hatte. Das zumindest war von Vorteil.
Draußen auf der Gesindemauer erwartete sie Corina. Lulu atmete auf. Nicht auszudenken, wenn ihre Freundin ausgerechnet heute nicht da gewesen wäre. Doch auf Corina war Verlass. Ungeduldig flatterte sie vor den Mädchen her, als wüsste sie genau, wie sehr die Zeit drängte. Es war ein weiter Weg bis zu der Hüttensiedlung, ganz und gar quer durch die Stadt bis zum anderen Rand.
Als sie endlich angekommen waren, fanden sie die Tür der Hütte weit offen. Keine Spur von Nanette, auch von ihren Sachen, ihren Kleidern und persönlichen Dingen war nichts zu sehen. Es war fast gar nichts mehr da, keine Lebensmittel, keine Wolldecken, kein Kochgeschirr, kein Handkarren mit Waren. Kein Ralf, bloß ein umgestoßener Bottich in einer Wasserpfütze und ein paar Büschel Haare. Entweder Nanette oder die lieben Nachbarn hatten alles aus der Hütte entfernt, was ihnen wertvoll erschienen war, und die Mädchen konnten nur hoffen, dass Nanette selbst ihr Haus ausgeräumt hatte. Sie hatte sich Damiano gegenüber furchtbar benommen, aber sie war kein Unmensch. Sie würde für Ralf sorgen, ihn zumindest nicht am Spieß braten und sein schönes Fell in der Gerbergasse verkaufen.
Das Amulett hing noch dort, wo Damiano es gelassen hatte – an einem Nagel über der leer geräumten Bettstatt. Niemand hatte das unansehnliche Teil haben wollen. Sie steckten es ein und rannten los, einen Hügel hinunter, über eine kleine Brücke, über ein schmutziges Flüsschen und dann querfeldein über ödes, verkommenes Land, immer auf die Berge zu. Eigentlich sahen die ganz nah aus, doch es dauerte lange, bis sie die ersten Ausläufer erreichten. Der Felsenkerker war einer dieser Ausläufer, ein hässlicher Kegel, der sich drohend aus der grauen Ebene erhob. Kalter Wind fegte über das Ödland, Regen kündigte sich an und bald würde es dunkel sein. Ein paar kleine Feuer brannten um den Berg herum, Zelte waren aufgebaut, Wind zerrte an der Leinwand, Menschen standen fröstelnd an den Feuern, starrten in die Flammen und hielten ihre kalten Hände darüber. Trostlos. Lulu wurde das Herz schwer.
»Was sind das für Leute?«, fragte Rafaela leise, als sie zwischen den Feuern hindurchgingen. »Warum campieren sie hier?«
»Sie haben Angehörige dort oben«, antwortete Lulu.
Sie schauten am Berg empor. Er war so grausam hoch, mit lauter kleinen Löchern wie blinde Augen, unzählige blinde Augen. Das waren die Fenster zu den Zellen, und irgendwo in einer Zelle, hinter so einem Auge, lag Damiano. Aber hinter welchem? Wie sollte Corina ihn finden? Es war viel zu spät, um alle Fenster zu erforschen!
Sie liefen am Fuß des Felsens entlang und riefen Damianos Namen. Aber sie wussten, dass es zwecklos war, absolut sinnlos. Der Wind brauste, der Berg war zu hoch und ihre Stimmen waren viel zu dünn. Überdies kurvten Scharen von krakeelenden Krähen um die Felswände. Damiano würde seine Schwestern niemals hören.
»Hört auf zu brüllen, niemand hört euch da oben«, sagte eine brüchige Stimme hinter ihnen.
Sie fuhren herum. Eine alte Frau funkelte sie aus kleinen Augen an. »Die meisten sind angekettet. Euer Damiano könnte sich nicht am Fenster zeigen, selbst wenn er euch hören würde.«
»Angekettet?«
»Ja, Kindchen, angekettet. Füße in Ketten an der Wand. Da bleibt nicht viel Bewegungsfreiheit. Ein, zwei Schritte höchstens. Manchmal stellen die
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