Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Wärter das Essen gerade so weit weg, dass die Gefangenen nicht drankommen. Dann müssen sie zusehen, wie die Krähen es fressen und immer fetter werden, während sie selbst verhungern.«
»Warum tun die Wärter das?«, fragte Lulu entsetzt.
Die Alte spuckte aus. »Hab ein Vermögen bezahlt, dass sie meinen Sohn losketten. Sie behaupten, sie hätten es getan. Aber«, sie trat so nahe an Lulu heran, dass die jedes Härchen, jede Falte und jedes Schmutzkorn im Gesicht der Alten erkennen konnte, deutlicher, als ihr lieb war. »Sie lügen! Denkt daran, wenn ihr mit ihnen verhandelt!« Die Alte zeigte auf einen Felsvorsprung. »Dahinter ist die Straße und das Haupttor und das Wärterhaus!« Sie spuckte noch einmal aus, drehte sich um und humpelte zu ihrem Platz am Feuer zurück.
Rafaela und Lulu eilten um den Felsvorsprung herum und stießen auf die Straße, die im weiten Bogen von der Stadt herführte und vor einem riesigen, zweiflügeligen Tor endete, dem Tor, durch das Damiano vor gar nicht langer Zeit im Inneren des Kerkers verschwunden war. Seitlich daneben duckte sich ein graues, kleines Haus in den Fels. Männerstimmen, Lachen, Grölen drangen aus der geöffneten Tür. Die Mädchen fassten sich an den Händen, um sich Mut zu machen, Corina ließ sich auf Lulus Schulter nieder und krakste leise. Sie hatte auf gut Glück ein paar Fenster abgeflogen und in die Zellen geschaut, doch Damiano nicht gefunden. Der Wind blies Wolken vor sich her, die an den Bergen hängen blieben. Es wurde zusehends dunkler.
»Also los«, sagte Lulu.
Beide Mädchen holten tief Luft und betraten das Haus. Ungefähr ein halbes Dutzend Männer saß im Halbdunkel um einen Tisch herum, redeten, lachten, rauchten und waren schlagartig still, als sie die Mädchen bemerkten. Ihre Blicke waren Lulu unheimlich, ihr wurde kalt, doch sie riss sich zusammen.
»Bitte sagt uns, welches Fenster zur Zelle unseres Bruders gehört, Damiano, Sohn von Graviata, der Palasthexe!« Ihre Stimme zitterte ein wenig und sie ärgerte sich darüber. Die Wärter starrten sie an, als wäre sie ein Mondkalb. Das ärgerte Lulu noch mehr. Sie nahm einen neuen Anlauf: »Wir möchten ihm winken und ihm Mut zurufen.« Ihre Stimme klang immer noch piepsig.
Wie auf Kommando brachen die Wärter in Gelächter aus, konnten sich gar nicht mehr einkriegen vor Heiterkeit.
»Wir möchten ihm winken«, äfften sie Lulus Stimmchen nach. »Wir möchten ihm Mut zurufen!«
Wütend stampfte Lulu mit dem Fuß. »Wir können bezahlen!«, rief sie. »Ein Goldstück, nur damit wir wissen, wo sein Fenster ist!«
Die Männer verstummten.
»Zeig uns das Goldstück!«, forderte einer. Er schien der Anführer der Gruppe zu sein, denn die anderen waren still, als er sprach.
Rafaela wühlte vorsichtig in ihrer Tasche, sodass kein verräterisches Klimpern zu hören war. Besser, diese Wärter erfuhren nicht, wie viel Gold sie besaßen. Schließlich zog sie eine Münze hervor und reichte sie dem Mann. Der prüfte sie und steckte sie ein. »Hast du noch mehr?«, fragte er. Rafaela schüttelte den Kopf.
Der Mann sah sie lauernd an. »Ich sag dir, welches das Fenster von deinem Bruder ist. Für ein Goldstück und einen Kuss. Das Goldstück hab ich, fehlt noch der Kuss!«
O je! Lulu sah, wie ihrer Schwester der Ekel ins Gesicht stieg, ihr Mund verzog sich und sie wurde fast grün! Zugegeben, der Mann war furchtbar hässlich, alt, mit grauen Bartstoppeln und Haaren in der Nase. Und mit fast keinen Zähnen, bloß ein paar schwarze Stummeln. Und er stank wie fauler Käse. Aber du liebe Güte, Rafaela konnte sich wirklich anstellen! Er wollte einen Kuss, also sollte er einen haben und dann wäre die Sache ausgestanden. Die Zeit lief ihnen davon.
»Ich gebe dir einen Kuss!«, rief Lulu.
Da brach ein Gegröle los, dass die Bude wackelte.
»Das Rabenmädchen will dir einen Kuss geben«, schrien die Wärter. »Mensch, Hanno, was hast du für ein Glück! Versuch’s mal! Vielleicht verwandelt sie sich in die Kellnerin vom Brunnenwirt!«
Hanno selbst lachte am lautesten. »Nee, lass mal«, gluckste er, als er wieder zu Atem gekommen war. »Lass mal, Rabenmädchen. Ich will einen Kuss von der Hübschen mit dem Lockenkopf! Na, was ist, Lockenköpfchen? Ohne Kuss keine Information!«
Lulu war tödlich beleidigt. Für wen hielt sich dieser Mistkerl eigentlich? Und Rafaela führte sich auf wie Jungfer Rühr-mich-nicht-an, wich immer weiter zurück mit Panik in den Augen. Himmel noch mal, ein Kuss war doch
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