Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Rafaela etwas zusammenhanglos und spuckte aus.
9. Kapitel
C orina verabschiedete sich. Die Mädchen sahen ihr nach, wie sie pfeilschnell knapp unter den Wolken zur Stadt zurück zu ihren Genossen düste. Auch sie machten sich auf den Heimweg. Der Wind zurrte an ihren Haaren und Kleidern, Regen peitschte ihnen entgegen. Sie verschränkten die Arme vor der Brust, zogen die Köpfe ein und die Schultern hoch.
Lulu träumte von einem köstlichen heißen Abendessen. Wer weiß, vielleicht hatte Else ja zu ihrer früheren Hochform zurückgefunden. Vielleicht gab es Pfannkuchen oder Waffeln mit Zucker und Zimt oder sahnigen Grießbrei oder …
»Ich schmecke es immer noch«, sagte Rafaela.
»Was?«, fragte Lulu verwirrt.
»Das mit dem Kuss. Den Geschmack von dem widerlichen Kerl!«
Rafaelas Mundwinkel waren vor Ekel verzogen, und ihre Lippen zitterten, als wolle sie gleich zu weinen anfangen.
»Du hättest ihn beißen sollen!«, rief Lulu.
Doch Rafaela schüttelte sich. »Unmöglich! Noch ekelhafter.« Hektisch versuchte sie auszuspucken, aber es klappte nicht mehr, alle Spucke war verbraucht.
»Bei der ersten Schenke in der Stadt machen wir halt und kaufen dir sechs Gläser Limonade«, bestimmte Lulu. »Fünf zum Gurgeln und eins zum Trinken. Und wenn wir daheim sind, erzählen wir alles Mama. Sie wird ihn in ein Schwein verwandeln. In ein Warzenschwein.«
Rafaela nickte schwach. Lulu hakte sich bei ihrer Schwester unter und gemeinsam stapften sie weiter gegen Wind und Regen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Immerhin hatte sie Rafaela dazu getrieben, sich von dem Widerling küssen zu lassen. Aber andererseits, was hatten sie denn für eine Wahl gehabt? Sie schauderte und war dankbar, dass der widerliche Mensch ihr Angebot, ihn zu küssen, so verächtlich abgelehnt hatte. Jetzt konnte man nur noch hoffen, dass Rafaelas Opfer nicht umsonst gewesen war, dass Damianos Amulett seine Wirkung entfaltete und zwar schnell. Er musste aus dem Kerker raus. Er würde da drin zugrunde gehen.
Sie erreichten die Hüttensiedlung. Kein Mensch war zu sehen, alle Bewohner hatten sich gegen den Wind in ihren Behausungen verschanzt. Nanette war immer noch nicht aufgetaucht, und ihre Hütte war die einzige, deren Tür weit offen stand. Trostlos quietschte sie in den Angeln. Die Mädchen beeilten sich, von dort wegzukommen.
Bei der ersten Schenke auf dem Weg zur Stadtmitte machten sie Rast. Rafaela kauerte sich auf die Treppe, während Lulu hineinspähte. Erleichtert sah sie, dass eine Frau den Ausschank bediente und die Gäste friedlich an ihren Tischen saßen und ihr Abendbrot verzehrten. Alles sprach dafür, dass sie hier ihre Limonade bekommen würden, ohne jemanden küssen zu müssen. Doch Rafaela wollte trotzdem draußen warten. Sie sagte, sie habe genug von verräucherten Stuben und Männergegröle.
Also ging Lulu allein hinein. Die Wirtin war freundlich und schenkte Lulu bereitwillig sechs Gläser Limonade aus, sie lieh ihr sogar ein Tablett, damit sie alle heil nach draußen bringen konnte, wo ihre Freunde warteten, wie Lulu erklärt hatte. Es gab allerdings einige verwirrende Momente, als Lulu ihr Goldstück auf den Tresen legte und die Wirtin erst nicht glauben wollte, dass es echt war. Sie rief ihren Mann und ihre Schwiegermutter herbei und alle drei untersuchten die goldene Münze eingehend. Während Lulu wartete, hörte sie mit halbem Ohr auf die Gespräche um sie herum. Jemand hatte ein unglaubliches Verbrechen begangen, eine Freveltat, und war verhaftet worden. Aber vielleicht war alles auch gar nicht wahr, die da oben sagten den kleinen Leuten ja nie die Wahrheit.
Die Wirtin erklärte Lulus Gold endlich für echt und gab ihr einen Riesenhaufen Wechselgeld. Nur mit Mühe konnte Lulu alles in ihre Taschen stopfen. Draußen setzte sie sich auf die Treppe und sah zu, wie Rafaela sich den ekligen Geschmack des Mistkerls weggurgelte. Sie benutzte tatsächlich vier volle Gläser Limonade dazu, die restlichen teilten sie untereinander auf.
Erfrischt und gestärkt von dem kühlen, zuckrigen Getränk nahmen sie erneut ihren Weg durch die Stadt auf. Es war dunkel, die Laternen brannten. Wegen des heftigen Windes waren nur noch wenige Leute unterwegs. Irgendwo in einer Parallelstraße stapfte eine Abteilung der Stadtwache, sie hörten ihre Schritte und die harschen Befehle des Chefs. Endlich erreichten die Mädchen den verlassenen Marktplatz und hielten auf die Gerbergasse zu, als sich vom Dunkel einer Hauswand eine Gestalt
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