Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
sie waren. Kein Zweifel mehr, wo der Gestank herrührte. Lulu wurde es schlecht, sie torkelte, entsetzt merkte sie, dass der stinkende Bach ihrem Gesicht immer näher kam. Oder war es umgekehrt? Jemand packte sie unter den Schultern und hielt sie fest. Einen Lidschlag später hätte sie mit dem Gesicht voran in der Brühe gelegen.
»Reiß dich zusammen!«, befahl Wanda.
»Werd bloß nicht ohnmächtig«, flehte Rafaela. Sie und Wanda nahmen Lulu in die Mitte und gemeinsam folgten sie dem kleinen Dven und seiner Laterne.
»Warum tun wir das eigentlich?«, fragte Rafaela.
»Es ist viel geschehen«, sagte Wanda. »Aber lasst uns erst mal aus dem Gestank herauskommen. Dann reden wir über alles.«
Rafaela widersprach nicht, Lulu auch nicht. Sie hätte sowieso nichts bereden können, ihr war zu übel. Doch wenigstens hatten sie erfahren, dass sie wieder aus diesem Gestank herauskommen würden. Sie würden sich nicht bis an ihr Lebensende in den Abwasserkanälen verstecken müssen.
Wanda sah auch ziemlich grün aus, nur der kleine Dven schien keine Probleme zu haben. Er sauste vor ihnen her, wechselte an den vielen Kreuzungen zielsicher die Richtung und überlegte nicht einen Augenblick, welchen Gang er wählen musste. Als ob er sein ganzes Leben hier unten verbracht hätte, dachte Lulu.
Eine halbe Ewigkeit schien ihre Wanderung durch das stinkende Labyrinth zu dauern. Manchmal waren die Gänge so breit, dass ein Fuhrwerk darin Platz gefunden hätte, dann wieder wurden sie niedrig und schmal und die Kinder kamen nur im Gänsemarsch voran. Rafaela und Wanda mussten die Köpfe einziehen. Oft genug rutschten sie auf dem glitschigen Boden aus und gerieten mit den Füßen in die eklige Brühe – zum Glück nur mit den Füßen. Fette Ratten und allerhand vielbeiniges Krabbelgetier flohen vor dem Laternenlicht. Lulu glaubte, etwas davonflitzen zu sehen, was ein Tausendfüßler, länger als ihr Unterarm, gewesen sein könnte.
»Wir durchqueren fast die ganze Stadt«, erläuterte Wanda. »Oder sagt man unterqueren?«
»Wir dind da«, verkündete Dven.
Endlich! Allerdings endete der Gang bloß vor einem Haufen Steine und Geröll. Dven kletterte hinauf, vorsichtig folgten ihm die Mädchen. Erst beim Klettern merkten sie, dass die Steine nicht lose herumlagen, sondern kunstvoll und stabil vermörtelt worden waren. Oben, über der Spitze des Steinhaufens, gab es wieder einen Deckel, den Dven mit seinem Metallstab schwungvoll und geschickt öffnete. Licht und Luft flossen ihnen entgegen – wundervoll! Die Mädchen stemmten sich nach oben wie Schiffbrüchige ins rettende Boot und sanken neben dem Loch erschöpft zu Boden. Hinter ihnen schloss sich dumpf die Luke.
Dven war nicht mit ihnen gekommen, aber das merkten sie erst später. Vorerst hatten sie genug damit zu tun, sich umzuschauen. Sie befanden sich in einem eigenartigen, runden Raum mit einem spitz zulaufenden, zeltartigen Dach und hohen Spitzbogenfenstern. In ihren nachtdunklen Scheiben spiegelte sich das Feuer der Fackeln, die in Halterungen an der Wand brannten und Licht und Wärme spendeten. Ein Geländer aus geschnitzten Pferdefiguren grenzte einen breiten, rundlaufenden Rang von der Hauptfläche ab. Feuchtes Stroh lag auf dem Boden und das ganze Gebäude roch durchdringend nach Pferd.
»Is ’n Hippodrom«, sagte Wanda, als sei damit alles erklärt.
»Ein Hippo was?«, fragte Rafaela.
Wanda seufzte. »So ’n Pferdedings. Hinter dem Vorhang dort« – sie zeigte auf einen schweren roten Vorhang mit goldenen Troddeln, der einerseits sehr kostbar aussah, andererseits aber halb aus seiner Schiene gerissen war und traurig schief herunterhing – »da geht’s zu den Ställen und zu den Garderoben und zu so einer Art Büro.«
»Ist ein Pferdedings ein Zirkus?«, fragte Lulu. Sie war schon einmal in einem Zirkus gewesen und er hatte ein wenig ausgesehen wie dieser Raum. Zumindest war er rund gewesen und einen roten Vorhang hatte er auch gehabt.
Wanda nickte. »Ein Zirkus für Pferde und Reiter. Sie zeigen Kunststücke. Und an manchen Tagen dürfen die Zuschauer auch auf den Pferden reiten, gegen Bezahlung natürlich.«
»Aha.« Lulu und Rafaela nickten. Sie hätten sich gern weiter über Pferde unterhalten, über Reitkunststücke und über das Hippodingsbums, denn solange sie über so etwas sprachen, mussten sie nicht über das Schreckliche reden, das offensichtlich geschehen war. Am Morgen noch hatte Lulu gedacht, das Übelste, das ihr heute bevorstünde, sei
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