Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
jetzt. Hast du sie etwa vergessen?«
Sie schüttelte den Kopf. Vergessen hatte sie die Botschaft nicht, aber sagen wollte sie sie auch nicht.
»Ach, ich weiß!«, rief Rafaela. »Sie glaubt, dass sie die Worte nur Familienmitgliedern sagen darf!«
»Na und?«, fragte Ellwin. »Wir sind eure Väter. Mehr Familie geht kaum.«
»Schon klar, ich verstehe«, brummte Wanda und wollte aufstehen, doch Lulu hielt sie zurück. »Es ist nicht wegen dir, Wanda. Ich glaube, ich sollte sie auch denen, ich meine, unseren Vätern, nicht sagen.«
»Wie bitte?« Empörte Einigkeit herrschte zwischen Ellwin und Churro. Lulu ließ unglücklich den Kopf hängen. Sie mochte die beiden nicht verärgern. Ellwin setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.
»Luluschatz«, sagte er schmeichelnd, »ich weiß ja, dass du dir Sorgen machst. Aber siehst du denn nicht, wie wichtig es ist, dass wir verstehen, was diese Worte bedeuten?« Und dazu, sprach er weiter, müssten sie die Worte nun mal kennen. Er habe ein Buch, ein berühmtes Nachschlagewerk. Darin seien sehr viele Wendungen der geheimen Hexensprache aufgezeichnet. Der Verfasser habe sie teilweise unter Lebensgefahr gesammelt und übersetzt. In diesem Buch könnten sie nachschlagen. Was war es denn genau, das Jovinda von Lulu verlangt hatte?
»Dass ich Mama den Text aufsage, hat sie verlangt«, berichtete Lulu dumpf. »Dass ich ihn niemandem außerhalb unserer Familie sage, hat sie damit gemeint.«
»Und mit außerhalb eurer Familie meinte sie auch die Väter?«
»Hm. Ich glaub schon.«
Und Tavinia gebar Loren. Und Loren gebar Wieken und Salen und Tavinia-Nina. Und Tavinia-Nina gebar Einar, Wineta und Nassia … Seit vielen Monaten hatte Lulu nicht mehr an die blöden Hexenannalen gedacht, jetzt waren sie plötzlich wieder in ihrem Kopf. Immer nur Mütter, die Kinder gebären. Mütter und Kinder, das waren Familien für Hexen. Kein Wort über Väter. Sie kniff die Lippen ganz fest zusammen.
»Du glaubst, dass du uns die Botschaft nicht sagen darfst«, raunte Ellwin und betonte das Wort »sagen«. Ein schelmischen Leuchten huschte in seine Augen. »Doch du darfst sie schreiben.«
»Kann nicht schreiben«, presste Lulu heraus.
»Aber dein Bruder kann es.« Fragend schaute er zu Damiano, der nickte stumm. »Dann ist es doch ganz einfach«, fuhr Ellwin lächelnd fort. »Damiano darf die Worte hören, er gehört zur Familie, auch nach deinen strengen Kategorien. Du sagst sie ihm, er schreibt sie auf und ich lese sie. Und Churro auch«, fügte er schnell hinzu, bevor der einwerfen konnte, dass auch er des Lesens kundig sei. »Auf diese Art und Weise verstößt du nicht gegen Jovindas Gebot, aber wir kennen die Worte und können ihre Bedeutung nachschlagen.«
Lulu schwirrte der Kopf. Ellwins Argumentation war spitzfindig, das war ihr klar, sie war ja nicht blöd. Ellwin wollte diese Worte unbedingt kennen. Er glaubte sich berechtigt, sie zu kennen, und er war ein ganz klein wenig gekränkt, weil Lulu sich weigerte. Lulu mochte nicht, dass er gekränkt war. Und auch alle anderen erwarteten von ihr, dass sie endlich mit dem Text rüberkam. Sie schaute zu Damiano, er nickte. Da gab Lulu nach.
Ellwin ging nach nebenan ins Studierzimmer, um das Buch über die Hexensprache zu suchen. Churro und Wanda räumten den Tisch ab. Rafaela trug Bumbum in sein Bett, der Kleine war auf ihrem Schoß eingeschlafen. Lulu zog sich mit Damiano in eine Ecke zurück und raunte ihm die Worte ins Ohr. Er hörte ihr konzentriert zu, tauchte die Feder ein und begann zu schreiben. Fasziniert sah Lulu, wie sich das weiße Papier mit schwarzen Zeichen füllte.
»Alles, was ich dir gesagt habe, steht jetzt da?«, fragte sie.
»Ich will’s doch hoffen«, antwortete er. Er kannte die Hexensprache zwar nicht, doch hatte er die seltsamen Laute seit seiner frühen Kindheit immer wieder gehört. Leise las er vor. Lulu war zufrieden und fasziniert zugleich, fasziniert von der Tatsache, dass gesprochene Wörter als Schrift auf einem Papier erscheinen, dass eine andere Person sie verstehen kann, ohne sie je gehört zu haben, und sie wieder in gesprochene Worte zurückverwandeln kann. Eigentlich kam ihr das auch wie Zauberei vor.
Alle hatten ihre Plätze wieder eingenommen. Vor Ellwin lag ein dickes, in schwarzes Leder gebundenes Buch mit roten Schriftzeichen. Na dann, dachte Lulu und reichte ihm den Zettel. Gespannt sahen sie alle, wie er ihn entfaltete und mit gerunzelter Stirn studierte.
»Hm«, sagte er, » häuscher
Weitere Kostenlose Bücher