Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen. Die alte Jovinda war ihnen nicht sympathisch genug, um sie in ihre Familie aufzunehmen. Und als was denn bitte schön? Großmutter? Urgroßmutter? Tante?
»Lächerlich!«, sagte Rafaela schnippisch.
Eine andere, viel wichtigere Frage war, wie es weitergehen sollte. Zwar wussten sie jetzt, dass Lulus geheime Botschaft ein Fluch war, aber sie wussten nicht, wer ihn geschaffen hatte und warum. Und was Graviatas und ihrer aller Unglück damit zu tun hatte. Ellwin bestand nach wie vor darauf, dass es wichtig und nützlich sei, Bücher zu durchforschen. Es gebe noch einige andere Sammlungen von Hexensprüchen, erzählte er, und in den nächsten Tagen wolle er sie in der Magier-Bibliothek ausleihen. Es würde ihn doch sehr wundern, meinte er, wenn sie darin nicht einen Hinweis auf den Fluch finden könnten.
Die anderen teilten Ellwins unerschütterlichen Glauben an die Macht der Bücher nicht unbedingt. Es kam ihnen eher so vor, als solle auf gut Glück in einem brackigen Teich gefischt werden, in dem es vielleicht gar keine Fische gab. Doch niemand hatte eine bessere Idee. Das Problem aber war, dass nur jemand in den Büchern nach dem Fluch suchen durfte, der erstens lesen konnte und dem zweitens der Fluch nichts anhaben würde. Da blieb nur Damiano. Für die anderen, Ellwin, Churro oder Wanda, wäre es viel zu gefährlich. Nicht auszudenken, wenn sie im Eifer des Lesens die Worte vor sich hin murmeln würden. Also musste Damiano diese Arbeit übernehmen, ausgerechnet er, der das Studieren und Bücherwälzen so sehr hasste. Er machte denn auch ein ziemlich unglückliches Gesicht.
»Ihr beide könntet eurem Bruder helfen«, wandte sich Ellwin an Lulu und Rafaela.
»Wie denn, bitte schön? Wir können nicht lesen«, gab Rafaela zurück.
»Das würdet ihr schnell lernen«, sagte Ellwin. »Es ist nicht schwer und ihr seid klug.«
»Niemals!«, rief Rafaela heftig. »Ich will eine Hexe werden. Wir lesen nicht! Lesen macht bequem, das Gehirn wird nicht mehr trainiert, die Konzentration lässt nach und die Sprüche verlieren ihre Kraft. Das genau ist der Grund, warum kein Magier jemals so gut sein kann wie eine Hexe!«
»Ich will lesen lernen«, sagte Lulu völlig unerwartet. Das Herz schlug ihr bis zum Hals ob ihrer Kühnheit und bei dem Gedanken, was ihre Mama wohl dazu sagen würde, wenn sie hier wäre. Aber ihre Mama war nicht hier. Und Lulu wollte lesen lernen. Fast kam es ihr so vor, als hätte sie noch nie im Leben etwas so sehr gewollt.
Rafaela verschlug es vor Schreck die Sprache.
»Wunderbar«, sagte Ellwin stolz. »Ich habe irgendwo eine Fibel herumliegen. Morgen früh gebe ich dir deine erste Stunde, morgen Abend kannst du die Fibel lesen und übermorgen kannst du deinem Bruder helfen!«
Rafaela fand ihre Sprache wieder. Sie tippte sich an die Stirn. »Du spinnst, Lulu. Du bist komplett durchgeknallt! Du versaust dir deine ganze Zukunft!«
»Was weißt du denn schon!«, gab Lulu patzig zurück. Vielleicht versaute sie sich ja die Zukunft, vielleicht aber stieß sie auch die Tür zu einer anderen Welt auf.
Ganz so schnell, wie Ellwin es vorhergesagt hatte, ging es mit Lulus Lesekünsten nun doch nicht voran. Erst am Abend des zweiten Tages konnte sie die Fibel lesen. Zwei Tage lang hatte sie geübt, bis ihr der Kopf rauchte, auf Buchstaben und bunte Bildchen geschaut. Und nichts ergab einen Sinn. Die Texte unter den Bildchen erschlossen sich ihr nicht. Es war zum Davonlaufen. Und genau das tat sie dann auch. Sie rannte hinaus in den Garten, wütend auf Ellwin, wütend auf sich selbst, wütend auf die ganze Welt. Sie brach sich eine Weidengerte und peitschte auf Goldruten und Brennnesseln ein, die ja nun wirklich nichts dafür konnten. Vermutlich hätte sie aufgegeben, wenn sie nicht genau gewusst hätte, was Rafaela für ein hämisches Gesicht aufgesetzt hätte und wie enttäuscht Ellwin von ihr gewesen wäre. Also gab sie nicht auf, kehrte, als sie sich ausgetobt hatte, zurück in die Küche.
Seufzend schlug sie die Fibel auf, und da war es ganz plötzlich, als ob sich in ihrem Kopf etwas zurechtgerückt hätte. Sie schaute auf die Buchstaben und diese verbanden sich zu einem Wort, einfach so. »Lola« stand da. »Lola kauft Käse«, und dass das wirklich dastand, merkte sie an dem Bild, auf dem man ein Mädchen sah, das an einem Marktstand Käse kaufte.
Sicherheitshalber probierte sie gleich den nächsten Satz. »Benno malt ein Bild.« Das war’s. Sie hatte
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