Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
– Rot.
Sie ließ alles andere sein, züchtete nur noch rote Rosen, auf allen sieben Feldern, die zum Anwesen gehörten, nichts als rote Rosen. Viele der Chronisten verstiegen sich auf die verrücktesten Vergleiche, um diese Farbe zu schildern. Von »Lebensglut« war die Rede, von »Herzensfeuer«, einer sprach gar vom »Feuer der Venus, herabgeholt auf unsere graue Erde«.
Doch die Blumen hatten noch weitere wunderbare Eigenschaften: Sie blühten immer, das ganze Jahr hindurch, sogar bei Eis und Schnee. Und – das weitaus Wunderbarste – sie brachten jedem, der sie bei Clarisse für viel Geld erwarb, Schönheit und lang andauernde Jugend. Kein Wunder also, dass Clarisse bald zu den berühmtesten und reichsten Frauen des Landes gehörte. Dann aber geschah etwas Furchtbares – eine Krankheit erfasste die Rosen, sie welkten, sie faulten, sie stanken wie die Pest, und wenn einer sich dennoch nicht abhalten ließ, welche zu kaufen, erlitt er bald dasselbe Schicksal. Clarisse kämpfte verzweifelt um die Rettung ihrer Rosen und ihres Rufes, ihr Vermögen schmolz dahin, und gerade als sich erste winzige Erfolge zeigten, geschah das rätselhafte Unglück: Der alte Aussichtsturm, der auf einem Hügel am Rand ihrer Besitzung stand, brach zusammen, und aller Wahrscheinlichkeit nach begrub er Clarisse unter sich. Nie wurde eine Spur von ihr gefunden, Erben meldeten sich nicht, das Haus verfiel. Alle Versuche, aus den Samen die berühmten Rosen nachzuzüchten, schlugen fehl.
So weit Ellwins Studien. Sie hatten ihnen nicht viel mehr Informationen gebracht als der kleine Abschnitt im Reiseführer, das jedoch mit wesentlich mehr Worten. Nichts über einen Fluch, nichts über Graviata.
»Es ist immer noch möglich, dass alle Zusammenhänge, die wir sehen möchten, gar nicht existieren«, meinte Ellwin, »dass alle Ähnlichkeit zwischen dem Fluch und der Geschichte des Rosenhauses nur Zufälle sind und dass Graviata nichts damit zu tun hatte. Vielleicht klärt sich alles ganz anders auf.«
Schwer zu glauben, dachte Lulu. So viele Zufälle konnte es eigentlich nicht geben. Aber der Gedanke, ihre Mama habe ein Verbrechen begangen, gefiel ihr überhaupt nicht.
»Wie lange ist es her, dass der Turm einstürzte?«, fragte sie.
»Neunundneunzig Jahre«, antwortete Ellwin prompt.
»Du lieber Himmel«, brummte Churro. »Da fragt man sich doch, wie diese Clarisse heute aussieht, wenn sie noch lebt, oder besser gesagt, wieder lebt.«
»Sie ist eine Hexe«, erwiderte Damiano. »Sie kann aussehen, wie immer sie will.«
Nach dem Mittagessen machten sie sich auf den Weg zum Rosenhaus. Lulu vergewisserte sich, dass ihnen vom Falken keine Gefahr drohte. Er war immer noch weit weg, belauerte die Krähen, die lärmend durch irgendwelche Wälder flogen. Soldaten allerdings konnte Lulu nicht erkennen. Sie schienen die Suche aufgegeben zu haben.
Es war ein unwirtlicher Tag. Dunkle Wolken jagten über den Himmel, ein kalter Wind blies Schwaden von Nieselregen vor sich her. Bei dem Wetter blieb jeder, der irgend konnte, gemütlich zu Hause. Nur ein paar Kühe standen auf den Weiden und glotzten ihnen wiederkäuend nach. Ihnen schien das Wetter nicht allzu viel auszumachen. Lulu umso mehr. In ihren Schuhen hatten sich kleine Seen gebildet und ihre Zehen fühlten sich wie Eisklumpen an.
Endlich standen sie auf einem unübersichtlichen, von Unkraut und Dornenranken überwuchten Gelände. Keine Spur von Rosen, nur nasses, dorniges Gesträuch. Auch die ursprüngliche Anlage der sieben Felder war nicht mehr zu erkennen, und ihr eigentliches Ziel, das Rosenhaus, hätten sie fast übersehen. Es standen nur noch die Grundmauern und die waren schwarz verrußt. Keine Spur von sieben roten Fenstern oder sieben ziegelroten Kaminen, nur Geröll, Abfall und Gestrüpp. Ein trostloser Anblick. In einigem Abstand zum Haus gab es ein paar halb zerfallene Hütten.
»Vermutlich haben Landstreicher und Zigeuner sie errichtet«, erklärte Ellwin. »Die haben früher recht häufig hier campiert. In letzter Zeit allerdings nicht mehr. Warum, weiß ich nicht.«
»Darum«, sagte Rafaela und zeigte auf ein seltsames Gebilde aus Draht, Holzstücken und Federn, das an ein dünnes Baumstämmchen genagelt war. »Das ist ein gängiger Zauber. Er schreckt solche Leute ab.«
»Scheint zu wirken«, brummte Ellwin.
»Nicht ganz«, widersprach Churro und zeigte auf eine Hütte, die etwas abseits von den anderen stand. Sie hatte noch ein Dach, Wände, eine Tür, ein halb
Weitere Kostenlose Bücher