Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
Ellwin.
»Nun, eben so gut, wie eine Magd ihre Herrin kennt«, antwortete sie. »Meine Mutter hat dort ausgeholfen. Das war viele Jahre vor meiner Geburt, sie war damals noch ein junges Mädchen. Und sie war auch nicht wirklich lange dort in Stellung. Das Unglück beendete ihre Dienstzeit, das Unglück mit dem Turm.« Mieka schwieg. Offensichtlich suchte sie nach den richtigen Worten.
»Obwohl ihre Zeit im Rosenhaus so kurz war«, fuhr sie fort, »hat die Erinnerung daran meine Mutter ihr ganzes Leben lang nicht mehr losgelassen. Sie hat nichts erzählt, aber sie hat viel daran gedacht. Es geschah oft, dass sie mitten in ihrer Arbeit innehielt und gedankenverloren vor sich hin starrte. Manchmal stundenlang. Wir wussten dann alle, dass die Erinnerungen ans Rosenhaus sie eingeholt hatten. Sie seufzte und weinte wohl auch manchmal, doch sie sprach nie darüber. Sie brachte es einfach nicht fertig.«
»Glaubt Ihr, sie weinte um Clarisse?«
»Nein«, antwortete Mieka zu ihrer aller Überraschung sehr entschieden. »Natürlich war sie bekümmert über das Unglück«, beeilte sie sich hinzuzufügen, »aber, versteht Ihr, sie war noch sehr jung, und Clarisse war wohl nicht das, was man eine warmherzige und fürsorgliche Frau nennen könnte. Sie war sehr streng und forderte viel von den Menschen in ihrer Umgebung. Ich glaube, dass meine Mutter Angst vor ihr hatte. Was sie wirklich traurig machte, war das Schicksal der Kinder.«
»Kinder?« Die Verblüffung im Raum war greifbar.
»In keiner Abhandlung über das Rosenhaus habe ich gelesen, dass Clarisse Kinder hatte«, protestierte Ellwin.
»Ich auch nicht«, fiel Meister Milasius ein. »Die Einzige, die über Kinder im Rosenhaus berichtete, war meine Schwiegermutter. Und bei ihr ging es ziemlich durcheinander. Mal waren es zwei Jungen und zwei Mädchen, mal nur ein Junge und zwei Mädchen, und dann wieder sprach sie von nur einem einzigen Kind, einem Mädchen. Ich habe ihr nicht geglaubt.«
»Unsinn«, widersprach Mieka energisch. »Meine Mutter war nicht verrückt. Clarisse hatte Kinder. Mindestens zwei, wahrscheinlich sogar vier. Mir kam es immer so vor, als ob meine Mutter sich Vorwürfe gemacht hätte und deshalb so unbestimmt daherredete. Wer weiß, vielleicht hätte sie am Tag des Unglücks die Kinder beaufsichtigen sollen. ›Die Kinder‹, seufzte sie oft, ›die armen Kinder.‹ Mehr war aus ihr nicht herauszubringen.«
»Glaubt Ihr, die Kinder sind mit Clarisse zusammen unter dem Turm begraben worden?«, fragte Ellwin.
»Was soll man sonst glauben?«, fragte Mieka zurück. »Da war noch etwas«, fuhr sie nach einer Pause fort. »Es ist mir erst neulich wieder eingefallen, wahrscheinlich ist es nur ein merkwürdiger Zufall. Ihr wisst ja, dass Clarisses Rosen welkten und sie alles Mögliche unternahm, um sie wieder zum Blühen zu bringen. Kurz vor dem Unglück mit dem Turm hatte sie Erfolg. Ein paar Rosen erholten sich. Eine davon war ihre schönste, ihr ganzer Stolz. Auch meine Mutter liebte diese Blume. Immer wieder hat sie uns Kindern von ihrer Schönheit und ihrem Duft vorgeschwärmt. Als nach dem Unglück feststand, dass Clarisse nicht mehr zurückkommen würde, ging meine Mutter auf das Feld, um sich von dieser Rose ein paar Samen zu holen, aber jemand war ihr zuvorgekommen. Der Busch war verschwunden. Ausgegraben mit Stumpf und Stiel, mit Wurzel, Blatt und Blüte. Ich hatte diese kleine Geschichte ganz vergessen, bis vor einiger Zeit der Skandal mit der Palasthexe aufgedeckt wurde. Wisst ihr, wie die Rose hieß? Graviata, wie die Hexe. Merkwürdiger Zufall, nicht? Ach du meine Güte, ihr seid ja ganz blass! Wahrscheinlich seid ihr am Verhungern! Da rede ich und rede und vergesse ganz, dass junge Leute was zum Essen brauchen!«
Es war ein Glück, dass Mieka so eine warmherzige, einfache Frau war. Wenn junge Leute schweigsam und blass waren, konnte es ihrer Meinung nach dafür nur einen Grund geben – Hunger. Sie huschte aus dem Zimmer und man hörte sie in der Küche hantieren. Bald darauf zog Bratenduft durchs Haus. Ein weiterer Glücksfall war, dass Meister Milasius so gerne redete. Er sprach und sprach und merkte nicht, dass seine Besucher entweder gar nicht oder nur äußerst einsilbig auf seine Erzählung reagierten.
Weitschweifig berichtete er vom Zerfall des Rosenhauses, wie die Felder immer mehr verwilderten und das Gelände umherziehenden Zigeunern und anderen Vagabunden als Rastplatz diente. Aber auch diese Leute kamen nun nicht mehr. Fast
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