Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
keine Mühe mehr, leise zu sprechen.
»Autsch«, entfuhr es Nik. »Warum kneifst du mich?«
»Seid endlich still«, zischte Ellie. »Ihr weckt noch die ganze Straße auf.«
In der anderen Ecke der Werkstatt erklangen ein schleifendes Geräusch und ein Knacken. Eine Lampe flammte auf und tauchte die Werkstatt in gelbliches Licht.
In der Ecke saß ein Mann zusammengesunken auf einem Schemel. Er hielt die Lampe über seinen Kopf und kniff die Augen zusammen.
»Kinder?«, murmelte er kraftlos. »Heinrich hat mir Kinder geschickt?«
»Heinrich hat uns nicht geschickt«, sagte Nik. Luuk war neben ihm und sah mit den Strohhalmen, die in seinen Haaren und seiner Kleidung steckten, wie ein halb gerupftes Huhn aus. Die Mädchen standen in ihrem Schatten.
»Was wollt ihr dann? Es ist mitten in der Nacht …«
»Eine Kugel«, sagte Ellie. Nik drehte sich erschrocken um. Er hatte sich schon eine Lüge zurechtgelegt und konnte nicht fassen, was Ellie gesagt hatte.
Der Mann beugte sich vor und spähte in die Dunkelheit. Er stand auf und hob die Lampe in die Höhe.
»Elisabeth? Bist du es?«
Ellie schob Luuk zur Seite und trat neben Nik ins Licht.
»Ja, Gustav, ich bin es«, sagte sie leise.
Der Mann humpelte auf sie zu. Nik stolperte vorwärts und riss Ellie an der Schulter zurück, aber der Mann stürzte sich nicht auf sie. Er warf sich vor ihr auf den Boden und umklammerte ihre schmutzigen Stiefel.
»Es tut mir leid, es tut mir leid«, wimmerte er immer wieder.
»Ich weiß«, sagte Ellie.
Der Mann schluchzte.
Nik hob die Laterne auf, die auf den Boden gefallen war, und entzündete die Kerzen in den Halterungen an der Wand. Dann öffnete er den Ofen und warf ein Holzscheit auf die glühende Kohle.
In dem hellen Licht der Kerzen und des Herdfeuers machte Gustav Schmieder einen erbärmlichen Eindruck. Dicke Tränen hatten weiße Spuren in sein schmutziges Gesicht gezogen, das von Reue und Verzweiflung gezeichnet war.
Nach einer Weile machte sich Ellie von ihm los und trat einen Schritt zurück. »Es muss ein Ende haben«, sagte sie streng.
Gustav sah das Mädchen lange an, dann nickte er.
»Könnt Ihr uns helfen?«, fragte Nik den Glaser.
Gustav hob den Kopf und sah den Kindern nacheinander ins Gesicht. Er nickte wieder, doch in seinen Augen stand das blanke Entsetzen.
Nik begriff, wie groß die Angst dieses Mannes war. Er konnte seine Furcht fast mit den Händen greifen. Würde er sie verraten, wenn sie ihn einweihten? War die Angst vor Heinrich und seiner Macht größer als die Reue?
Gustav hockte vor ihnen auf dem Boden und Nik kniete sich neben ihn.
»Wir haben eine von Ihren Kugeln gestohlen. Sie ist auf den Boden gefallen und zerbrochen und auf einmal hat es gebrannt. Warum?«
Gustav hob den Kopf. »Wir schließen sie ein und verstoßen gegen die Naturgesetze. Wenn sie wieder entweicht, wendet sie sich gegen uns.« Er seufzte. »Ich habe Liebe in das Glas gewebt. Die Kugeln zeigen uns das Gesicht des Menschen, den wir lieben.«
Nik spürte, wie ihm die Hitze in den Kopf stieg und seine Wangen rötete.
»Die Kugel zeigt das, was wir von Herzen ersehnen«, fuhr Gustav fort. »Aber wenn die Liebe zerbricht, verzehrt ihr Feuer alles in ihrer Nähe.«
»War es unsere Schuld?«, fragte Ellie mit zittriger Stimme. »Haben unsere Gefühle das Haus verbrannt, als die Flammen aus den Scherben aufgestiegen sind?«
»Nein.« Gustav schüttelte den Kopf. »Ihr habt nichts damit zu tun. Ich schließe die Liebe ein, und wenn sie entweicht, ist es immer noch meine …«
»Ist das bei den anderen Sachen auch so?« Benthe hatte sich neben Nik gekniet. Ihr Gesicht war von sorgenvollen Falten gezeichnet.
»Was meinst du?«, fragte Gustav das blonde Mädchen.
Benthe öffnete den Mund, doch ihr kam kein Wort über die Lippen. Nik legte eine Hand auf ihren Rücken.
»In der Gilde sind nicht nur Glaser …«, begann er.
Gustav starrte ihn an. »Ihr wisst von unserem Bund?«
Die vier nickten.
Gustav senkte den Kopf und seufzte. Dann sah er zu Ellie. »Es tut mir leid, es tut mir so leid. Ich wusste es nicht.«
Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Nik bewunderte sie für ihre Beherrschung. Er konnte sich selbst kaum davon abhalten, den Mann zu packen und zu schütteln, wenn er an die weinenden und ängstlichen Männer, Frauen und Kinder dachte, die aus den brennenden Häusern gerannt waren.
Dann schob sich ein anderes Bild vor sein Auge. Seine Brüder, wie sie die Treppe hinunterrannten, mit Tüchern auf den
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