Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
lief durch den Flur und trat auf das Deck. Nik folgte ihm. Er blieb dicht an der hölzernen Tür stehen und achtete darauf, niemandem im Weg zu sein. Die ersten Segel fielen raschelnd auseinander und blähten sich im Wind. Taue wurden von den Pollern genommen und auf das Schiff geworfen.
Nik trat an die Reling und beugte sich weit hinüber, um sich von Amsterdam zu verabschieden. Die Lagerhäuser am Hafen wurden kleiner, und es sah aus, als würden die Spitzen der Kirchen und Wachtürme die tief hängenden Wolken kitzeln.
Dann musste er an Benthe denken und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte seine Aufregung geteilt und mit ihm Pläne geschmiedet, wie sie dem Geheimnis der Gilde auf die Spur kommen konnten. Es würde viele Tage dauern, bis er in London war, und noch einmal die gleiche Zeit, bis er ihr einen Brief nach Amsterdam schicken konnte.
Nik hatte sich nicht von ihr verabschiedet, und obwohl es nicht seine Schuld war, schämte er sich. Er hatte sie zum ersten Mal in seinem Leben im Stich gelassen.
Wehmütig atmete er die Luft tief ein. Sie roch nach Holz, Teer und Hanf – und einem Hauch von Abenteuer.
Gustav Schmieder saß am Tisch seiner Werkstatt. Alles war an seinem Ort und für die Arbeit vorbereitet. Auf dem Schrank standen seine Bücher und an der einen Wand reihten sich Dutzende kleiner Glasflaschen mit bunten Zutaten auf hölzernen Brettern. Die silbernen Schalen waren poliert und das Feuer in dem eiförmigen Lehmofen geschürt. Er hatte das Glas schon bereitgestellt, aber er konnte nicht beginnen.
In seinen Händen hielt er ein Stück Papier, das mit schwarzer Tinte in sauberen schwungvollen Buchstaben beschrieben war. Es waren deutliche Worte, die kein Missverständnis zuließen.
Sie hatten ihm die Hoffnung auf einen Weg zurück genommen. Sein Wissensdurst und seine grenzenlose Neugier hatten ihn vor vielen Jahren aus der Heimat in die Arme einer neuen Familie getrieben. Ihr hatte er sich verpflichtet gefühlt und seine neuen Brüder gefördert und geliebt.
Nun war er verloren. Einer von ihnen hatte sie verraten und mit dem Leben dafür bezahlt. Sie waren zu weit gegangen, sie hatten nicht mehr zusammengehalten und die alten Ziele ihrer Bruderschaft hatten ihren geheimnisvollen Zauber verloren.
Gustav starrte auf das Papier und die wenigen Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Die harten Worte hatten sich in seine Gedanken eingebrannt und er hörte sie unablässig in seinem Kopf.
»Mein lieber Gustav, sie sind beide tot«, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.
»Sie haben dir nie verziehen«, raunte eine andere. Seine Eltern hatten ihn nicht verstanden und seinen Wissensdrang unnatürlich und beängstigend genannt. Nun waren sie verstorben, ohne dass er sich mit ihnen aussöhnen und von ihnen verabschieden konnte.
Plötzlich klopfte es an seine Tür und Gustav ließ das Papier auf die polierte Oberfläche seines Tisches fallen. Er stand auf und humpelte zum Eingang. Knirschend zog er den linken Fuß über den steinernen Boden.
Draußen stand eine Frau. Er erkannte sie sofort.
Als er in Amsterdam angekommen war, hatte er sich mit den anderen Mitgliedern der Gilde beim Vorsitzenden des Magistrats, dem Stadtregenten de Witt, in die Bücher eingetragen und dabei das große Ölgemälde seiner portugiesischen Ehefrau bewundert, das über dem Schreibtisch hing.
Carmen de Witt betrat sein Haus wie eine orientalische Prinzessin. Er hatte noch nie jemanden mit einem anmutigeren Gang gesehen.
Gustav verneigte sich unwillkürlich und deutete mit der Hand auf den gepolsterten Stuhl an seinem Tisch.
Sie nickte ihm zu und setzte sich. Ihr dunkelgrünes Kleid raschelte bei jeder Bewegung.
»Mijnheer Schneider, ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.«
Sie musterte ihn eingehend, während sie sprach.
Gustav seufzte tonlos. Er war diesen skeptischen Blick gewohnt. Sein Gesicht war nicht dafür gemacht, Vertrauen zu erwecken. Es lag an seinen außergewöhnlich guten Augen. Er war stolz darauf, aus fünf Schritten Entfernung die winzigen Perlen zu entdecken, die Carmen de Witt auf den Ausschnitt ihres Kleides gestickt hatte, und die kleinen Vögel zu bewundern, die in ihren Schal gewebt waren, doch das Tageslicht, das durch die offene Tür in die Werkstatt fiel, brannte fürchterlich in seinen Augen. Er schlief kaum noch, weil er die Träume fürchtete, und dadurch waren sie noch empfindlicher geworden als zuvor. Er ging kaum mehr aus dem Haus, wenn die Sonne die Stadt erhellte. Um bei
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