Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Tageslicht überhaupt etwas erkennen zu können und weniger Schmerzen zu verspüren, musste Gustav die Lider stark zusammenkneifen. Leider machte er dadurch auf die meisten Menschen einen verschlagenen Eindruck.
Wenn er nun aber die Tür schließen würde, säße er mit der Frau des Stadtregenten allein in der dämmrigen Werkstatt. Dafür konnte er sicher gehängt werden.
Gustav legte die Hand an die Stirn, um seine Augen gegen das Licht abzuschirmen, und versuchte, sie so weit wie möglich zu öffnen.
»Ich sorge mich um die Kinder der Stadt. Sie sollen in die Schule gehen und etwas lernen«, erklärte die Dame und faltete ihre Hände vornehm im Schoß, »damit sie später ihre Eltern unterstützen können.«
Gustav nickte, weil sie ihn erwartungsvoll ansah.
»Auch die Mädchen sollen schreiben und lesen können.«
Gustav runzelte die Stirn. Amsterdam war noch seltsamer, als er gedacht hatte.
»Für einige Mädchen suche ich nun eine Lehrstelle, damit sie etwas Ordentliches lernen.«
Gustav nickte wieder, konnte sich aber nicht vorstellen, wo dieses Gespräch hinführen sollte.
»Nehmt Ihr in diesem Jahr einen Lehrling auf? Ich weiß, Ihr seid noch nicht lange in der Stadt …«
»Ein Mädchen?«
»Ja.«
»Aber ich bin Glaser, meine Dame.«
Sie nickte.
»Ihr wollt ein Mädchen als Lehrling zu mir bringen?«
Sie nickte.
»Lehrlinge wohnen im Haus ihrer Meister«, stellte er fest.
»Ihr seid nicht verheiratet?«
»Nein.« Gustav schüttelte den Kopf. Heute war offensichtlich der Tag der Demütigungen. Bilder von Frauen, die ihn zurückgewiesen hatten, schlichen sich in seine Gedanken.
Gustav musterte Carmen de Witt. Ihr ebenmäßiges Gesicht hatte etwas Königliches, und wenn ihre Nase nicht viel zu weit aus dem Gesicht herausragen würde, wäre sie von atemberaubender Schönheit. Gustav schüttelte den Kopf und setzte sich auf den Hocker vor dem Ofen. Er öffnete die Klappe und genoss für einen Augenblick die Hitze, die ihm die Augenbrauen verbrannte.
Er legte Bergkristalle hinein und schloss die Klappe. Dann erhob er sich und füllte Salz und Sand in tönerne Schalen.
»Ein Lehrling könnte Eure Arbeit vorbereiten«, schlug Carmen vor.
Gustav bewunderte ihre Hartnäckigkeit und hätte ihr gerne einen Gefallen getan. Aber er konnte niemanden in sein Haus aufnehmen. Jede Nacht weckte ihn sein eigenes Schreien und Stöhnen, weil er im Traum die Kinder sah, die mit Beulen an den Händen gestorben waren, seinen Nachbarn, dessen Haus gebrannt hatte, und die Familie am Hafen, die von einer Flutwelle überrascht worden und ertrunken war. All die Menschen, denen er in London begegnet war, suchten ihn in seinen Träumen heim und schürten sein schlechtes Gewissen. Er konnte es nicht länger verdrängen und fühlte sich verantwortlich für ihr Unglück.
Er hätte dem Wunsch der schönen Frau zu gerne nachgegeben. Ihre dunkelbraunen Augen schauten willensstark und doch irgendwie unsicher in die Welt und brachten etwas in ihm zum Klingen, das er schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Gustav konnte ihr nicht geben, worum sie bat, aber er wollte sie auch nicht mit leeren Händen gehen lassen und erhob sich, um ein Tuch aus dem kleinen Schränkchen neben der Tür zu nehmen. Als er es auseinanderwickelte, kam eine erbsengroße Perle aus klarem Glas zum Vorschein. Carmen de Witt beobachtete mit offenem Mund, wie sich die Sonnenstrahlen auf der Oberfläche der Kugel brachen und an der Decke tanzten. Gustav nahm eine Hand aus ihrem Schoß und ließ die Glasperle hineinfallen.
Nik genoss das Leben an Bord der Saint George, seit Amsterdam verschwunden war. Alles war fremd und neu, doch es folgte einem Rhythmus und einer Logik, in die er sich schnell eingefunden hatte. Nik beobachtete Levi und die anderen Jungen bei ihren täglichen Arbeiten auf dem Schiff und studierte ihre Handgriffe. Er lernte in den ersten Tagen fast alle Namen der aus zweihundert Mann bestehenden Besatzung und erstaunte den Kapitän mit seinem guten Gedächtnis.
Schon am nächsten Tag auf See fand Nik einen Weg, sich nützlich zu machen. Levi hatte sich mit altem Fisch den Magen verdorben und hing den ganzen Nachmittag über der Reling. Nik übernahm seinen Dienst. Er stellte sich mittags neben das Stundenglas und drehte es um, wenn das letzte Sandkorn durch die Flasche gefallen und wieder eine halbe Stunde vergangen war. Ihm gefiel der Blick auf das bewegte Meer und die Küste, die an der Backbordseite immer wieder aus dem Nebel auftauchte.
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