Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
London würde niemals sein Zuhause sein.
Er drehte sich noch einmal zur Saint George um. Alexej stand am Bugspriet und tippte zum Gruß mit den Fingern an ihre Mütze. Ein dunkelhäutiger Mann schulterte Niks Truhe und trat neben den Wollhändler. Seufzend folgte Nik den beiden Männern in die Stadt hinein.
Die Häuser sahen alle gleich aus und unzählige kleine Gassen führten vom Hafen in das Herz Londons. Nik wollte nicht in dieser fremden Stadt sein, aber noch weniger hatte er das Bedürfnis, allein durch die Straßen zu irren und sich hoffnungslos zu verlaufen, und so eilte er den beiden mit flinken Schritten hinterher. London kam ihm riesig vor, bestimmt konnte man Wochen unterwegs sein, bis man zufällig ein zweites Mal an einem Haus vorbeikam. Er hatte vom Fluss aus fast hundert Kirchtürme gesehen. Dagegen war Amsterdam ein kleines Dorf.
Nik atmete den Geruch der Stadt ein. Verbranntes Holz und Kohle wehten ihm in die Nase und Abfall und Pferdedung lagen überall auf der Straße. Scharen von Menschen gingen an ihnen vorbei. Nik roch Orangen und Äpfel und sah Gemüse und Brennholz in ihren Tragekörben.
Die Händler strömten vom Hafen auf einen Marktplatz und schwärmten aus, um lauthals ihre Waren anzupreisen. Schrill übertönten die fremden Worte das Gewirr der Gespräche und Verhandlungen.
Nik blieb stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen.
In der Mitte des Platzes standen die Menschen dicht aneinandergedrängt. Am Rand waren Stände aufgebaut, auf denen auch Milch, Eier und Muscheln angeboten wurden.
Eine Kutsche kam unerwartet hinter ihnen aus der Straße geprescht. Nik hörte das flinke Klappern der Pferdehufe und drehte sich um. Da war das Gefährt auch schon neben ihm und er sprang mit einem Satz zur Seite.
Die Kutsche hatte ihn nur gestreift, dennoch war er gestürzt und mit den Knien im Dreck der Straße gelandet. Er konnte sich gerade noch mit den Händen abgefangen, bevor auch sein Gesicht darin eingetaucht wäre. Er stand auf und sah an sich herunter. Fluchend wischte er die schmutzigen Finger an seiner Hose ab. Der klebrige Gestank stach ihm in die Nase.
Nik richtete sich auf und sah sich nach dem Wollhändler um. Er war verschwunden. Weder in den Gassen noch auf dem Marktplatz konnte er ihn entdecken. Mit klopfendem Herzen lief Nik auf die Händler zu.
»Habt Ihr den Wollhändler Joseph Chadwick gesehen?«, fragte er den Kaufmann an der Ecke auf Niederländisch. Der starrte ihn an, antwortete aber nicht.
Nik fragte den nächsten. Der hob bedauernd die Schultern. Der dritte beschimpfte ihn in einer fremden Sprache. Nik verstand kein Wort.
Er griff nach dem ledernen Beutel, den er unter dem Hemd verborgen trug. Seine Münzen waren zum Glück noch da, doch er wusste nicht, ob sie hier als Währung galten. Nik seufzte.
Das Geschrei in der Mitte des Platzes wurde immer lauter.
Wenn er die Männer nicht mehr fand, konnte er genauso gut nachsehen, was die Aufmerksamkeit der Londoner fesselte.
Neben dem Tisch eines Händlers lagen mehrere beschädigte Kisten und Körbe. Nik hob sie auf. Als niemand protestierte, trug er sie an den Rand der Menge und stapelte sie auf. Es war ein wackeliger Turm, der kaum eine Elle hoch war, doch es reichte, damit Nik über die Köpfe der Menschen hinweg in ihre Mitte sehen konnte.
Als er sah, was dort geschah, wünschte er, er hätte es nicht gesehen.
Vor der Mauer, die den Platz im Osten begrenzte, thronte ein hölzerner Galgen. Ein Mann stand zwischen den Pfosten. Die Schlinge war bereits um seinen Hals gelegt.
Nik spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Im Haus seines Vaters hatte er häufig Diskussionen über die Todesstrafe und Folter mitbekommen. Die Gäste erzählten von anderen Ländern und Sitten. Verbrecher mussten bestraft werden, da gab es keinen Widerspruch. Aber zu sehen, wie es geschah, war unerträglich.
Nik presste die Hand auf den Mund.
Ein Mann in einer schwarzen Kutte rief etwas mit lauter Stimme und wies anklagend auf den Mann. Es musste ein schlimmes Verbrechen sein, denn der Scharfrichter mit der schwarzen Kutte zeigte immer wütender auf den Angeklagten und fuchtelte energisch mit den Armen durch die Luft, um seine Abscheu vor der Tat zu verdeutlichen. Nik wollte sich schon angewidert umdrehen, als die Rede abriss. Mit offenem Mund beobachtete er, wie auch die Menge um ihn herum ihr Schnattern, Tratschen und Wettern einstellte und sich stumm dem Galgen zuwandte. Quälend langsam richtete der Ankläger den Arm auf den
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