Das Geheimnis des toten Fischers
Vielleicht dachten sie, die manische
Phase sei nur vorübergehend. Und sie nahmen es Andy übel, daß er sie in das
Hospiz eingeliefert hatte. Als die Polizei begann, ihn zu verdächtigen,
schürten sie natürlich den Verdacht mit ihrem Gerede, Barbara hätte sich nie
das Leben genommen.«
Susan Tellenberg hatte viel Zorn in
sich aufgestaut, und ich nahm an, sie hing mehr an Andy, als das bei
Schwägerinnen eigentlich üblich ist. Ich schaute auf ihre rechte Hand: kein
Ehering. Sie konnte verwitwet oder geschieden sein — mit einer heimlichen Liebe
zu dem sanften Mann ihrer Schwester.
Ich sagte: »Aber Andy hat ihre
Schwester davon überzeugt, daß es besser ist, wenn sie ins ›The Tidepools‹
geht.«
Sie nickte. »Sie wollte nicht, aber er
bestand darauf. Es war das einzige Mal in ihrem ganzen gemeinsamen Leben, daß
er sich durchsetzte. Normalerweise tat er, was sie wollte. Ich habe ihn oft
gefragt, und er meinte, das sei besser als in einem ständigen Konflikt zu
leben. Jedenfalls, Barbara ging ins ›The Tidepools‹, aber sie haßte es vom
ersten Tage an und sorgte dafür, daß es auch jeder wußte. Und dann ist sie
gestorben. Sie muß die Medikamente aufbewahrt haben wie die anderen.«
»In der Zeitung hieß es, sie hat das
Mittel nicht lange genug bekommen, um eine tödliche Dosis davon ansammeln zu
können.«
Susan zuckte mit den Schultern und ging
mit ihrem Korb zu einem anderen Baum. »Vielleicht hat Barbara die Drogen
eingeschmuggelt. Wie gesagt, sie hat immer irgendwelche Tabletten geschluckt.«
»Hat die Autopsie ergeben, daß sie an
dem Mittel gestorben ist, das an die Patienten im Hospiz ausgegeben wird?«
»Das konnte man offenbar nicht so genau
feststellen. Die Patienten erhalten meines Wissens eine Mischung, und eine
Autopsie kann nicht genau das Verhältnis nachweisen oder die Zusammensetzung
der einzelnen Medikamente.«
Das mochte richtig sein, und es erweiterte
den Kreis der Verdächtigen. Jeder, der Zugang zu verschreibungspflichtigen
Medikamenten hatte, konnte Barbara getötet haben. »Aber warum ist Andy dann
geflohen?«
»Ich sagte Ihnen doch, die Polizei hat
ihn verdächtigt.«
»Sie muß doch irgendeinen Anhaltspunkt
gehabt haben.«
Susan richtete sich auf. Das
Sonnenlicht warf tanzende Lichter unter dem Laub des Baumes auf ihr besorgtes
Gesicht. Sie saß eine Weile so da, dann sagte sie: »Es war diese etwas
undurchsichtige Geldangelegenheit.«
»Barbara hatte geerbt, meinen Sie das?«
»Ja. Die Polizei hat herausgefunden,
daß Andy ein paar Tage vor Barbaras Tod alles in bar vom Bankkonto abgehoben
hat.«
»Warum hat er das getan, wissen Sie
einen Grund dafür?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hat er nicht mit Ihnen darüber
gesprochen?«
»Nein.« Wieder schaute sie wie abwesend
in die Krone des Baumes. »Als ich es erfuhr, war Andy schon weg. Ich habe
seitdem immer und immer wieder darüber nachgedacht, habe aber keine Antwort
gefunden, es sei denn —«
»Ja?«
»Es sei denn, Barbara hätte ihn dazu
gezwungen. Sie hat ihn immer zu allem möglichen gezwungen.«
»Aber warum? Wozu hätte sie
vierzigtausend Dollar in bar gebraucht?«
Susan rieb sich die Hände und fuhr dann
fort, das Fallobst einzusammeln. »Ich habe eine Theorie, nämlich daß sie
plante, jemanden im Hospiz zu bestechen, damit er ihr bei der Flucht half.«
»Bei der Flucht? Sie wurde doch nicht
gegen ihren Willen festgehalten, oder?«
»Nicht unbedingt. Aber denken Sie,
Barbara war nicht ganz zurechnungsfähig gegen Ende. Sie litt unter
Verfolgungswahn und... Ich weiß es nicht. Das ist eben meine Theorie; ich habe
keine bessere Erklärung gefunden.«
Sie hatte offenbar eine ganze Reihe von
Theorien entwickelt, und die meisten standen im Widerspruch zueinander, gingen
jedoch alle davon aus, daß Andy ihre Schwester nicht getötet hatte.
Susan mußte meine Skepsis gespürt
haben. »Schauen Sie«, sagte sie, »ich weiß nicht, was Barbara vorgehabt hat.
Ich habe nie begriffen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie hatte alles, war
klug und hübsch und hatte einen Mann, der sie liebte. Sie brauchte nicht als
Kellnerin zu arbeiten und einen Jungen allein großzuziehen wie ich. Ihr Mann
hatte sie nicht verlassen, bevor das Kind geboren war, wie der meine. Und als
unsere reiche Tante ihr Testament machte, hat sie Barbara als Erbin eingesetzt,
nicht mich. Aber war Barbara dafür dankbar? Nein, nicht meine Schwester. Sie
hat ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan, als es sich und den anderen so
schwer
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