Das Geheimnis des Viscounts
gewetzt und erleichterte sich. Stockfinster war es hier draußen, und ein kalter Wind fegte über die Anhöhe. Melisande fröstelte.
„Warte." Jasper beugte sich noch einmal in die Kutsche und holte unter dem Sitz einen Umhang hervor, legte ihn Melisande um die Schultern und reichte ihr seinen Arm. „Wollen wir, liebe Gemahlin?"
Sie nahm seinen Arm und beugte sich flüsternd zu ihm. „Jasper, was sollen wir tun, wenn Sir Alistair gar nicht da ist?"
„Ach, irgendwer wird schon da sein, nur keine Sorge."
Er führte sie eine breite Treppe hinauf, deren Stufen im Laufe der Jahrhunderte von unzähligen Füßen ausgetreten worden waren. Die Tür war bestimmt drei Meter hoch und mit schweren Eisen beschlagen.
Jasper hieb mit der Faust gegen die Tür. „He! Aufmachen! Hier draußen sind Reisende, die ein warmes Bad und ein weiches Bett wollen. He! Munroe! Los machen Sie schon auf und lassen Sie uns herein!"
So ging es noch ungefähr fünf Minuten weiter, dann hielt er auf einmal inne, ließ die erhobene Faust mitten in der Bewegung verharren.
Fragend sah Melisande ihn an. „Was ... ?"
„Schsch."
Und dann hörte sie es auch. Hinter der Tür ließ sich ein dumpfes Scharren vernehmen, als wäre ein Höhlentier aus langem Schlaf erwacht und recke die trägen Glieder.
Jasper hieb so heftig gegen die Tür, dass Melisande erschrocken zusammenzuckte. „Los! Aufmachen!"
Ein schwerer Riegel wurde mit lautem Rumms zurückgeschoben, dann öffnete sich knarrend die Tür. Ein kleiner, doch recht stämmiger Mann blickte ihnen unwirsch entgegen. Auf dem Kopf war er kahl, doch über den Ohren wuchs ihm das ergrauende rote Haar noch in kräftigen Büscheln. Er trug ein langes Nachthemd und derbe Stiefel.
„Was ist?", raunzte er.
Jasper lächelte charmant. „Ich bin Viscount Vale, und dies ist meine Gemahlin. Wir sind hier, um Ihren Herrn zu besuchen."
„Nein, sind Sie nicht", entgegnete der finstere Gesell und wollte die Tür wieder schließen.
Entschlossen hielt Jasper sie mit der Hand auf. „Doch sind wir."
Der kleine Mann stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür und versuchte sie zu schließen, doch vergebens. „Ich weiß von keinen Besuchern", knurrte er. „Weder sind die Zimmer geputzt noch die Vorräte aufgestockt. Tut mir leid, müssen Sie ein andermal wiederkommen."
Mittlerweile war selbst Jasper das Lächeln vergangen. „Lassen Sie uns rein, Mann. Um alles andere kümmern wir uns später."
Der Mann wollte etwas erwidern. Offensichtlich schien er nicht gewillt, sich so leicht geschlagen zu geben, doch in diesem Augenblick stieß Mouse wieder zu ihnen. Der Terrier brauchte nur einen einzigen Blick auf Sir Alistairs Diener zu werfen, um zu wissen, dass hier der Feind stand. Mouse bellte ihn so wütend an, dass er jedes Mal einen kleinen Satz in die Höhe machte. Der kleine Rothaarige sprang kreischend zurück. Das genügte Jasper. Er stieß die Tür ganz auf und nahm mit Mr Pynch an seiner Seite die Festung ein.
„Warten Sie bei der Kutsche, bis wir so weit sind", wies Melisande ihre Kammerzofe an und folgte dann den beiden Männern in etwas gesitteterer Manier.
„Das dürfen Sie nicht! Das dürfen Sie nicht! Das dürfen Sie nicht!", schrie das kleine Männchen immer wieder.
„Wo ist Sir Alistair?", verlangte Jasper zu wissen.
„Fort! Er ist ausgeritten und kann noch Stunden fort sein!"
„Er reitet mitten im Dunkeln aus?", fragte Melisande verwundert. Die Gegend war ihr während der Fahrt schon recht unwirtlich erschienen: rau, wild, gebirgig. Gewiss war es nicht ungefährlich, hier abends auszureiten? Noch dazu allein. Selbst bei Tage schien es ihr ein Wagnis.
Doch der kleine Mann war schon davongehuscht, eilte ihnen durch eine riesige Halle voraus und riss eine der Türen auf. „Hier können Sie warten, wenn Sie wollen. Schert mich den Deibel."
Damit wandte er sich zum Gehen, doch Jasper packte ihn beim Kragen. „Moment", knurrte er und wandte sich dann an Melisande. „Würdest du hier mit Mouse warten, während Pynch und ich uns nach Schlafräumen und etwas zu essen umsehen?"
Dunkel war das Zimmer und alles andere als einladend, aber Melisande reckte das Kinn und gab sich unerschrocken. „Natürlich."
„Tapfer, meine Liebe." Jasper strich mit den Lippen über ihre Wange. „Pynch zünden Sie Ihrer Ladyschaft ein paar Kerzen an, und dann lassen wir uns von diesem prächtigen Burschen eine Schlossführung geben."
„Jawohl, Mylord." Mr Pynch zündete mit dem Licht seiner
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