Das Geheimnis des Viscounts
dann küsste er sie so liebevoll, dass es wie ein Versprechen zwischen ihnen war, ein heiliger Schwur. Jasper zog die Decke über sie beide, schlug sie sorgsam ein und drückte seine Frau sanft an sich. „Schlaf jetzt, liebste Gemahlin."
Seine Worte und seine zärtlichen Berührungen trösteten sie. Melisande schloss die Augen. Nun waren auch die letzten Tränen versiegt, und sie lag fast friedlich da. Ihre Wange an seine Brust geschmiegt, lauschte sie dem Schlag von Jaspers Herzen, seinem starken, steten Rhythmus, und ließ sich von ihm in den Schlaf tragen.
Der nächste Morgen zog trüb herauf; feiner Nieselregen fiel vom grauen Himmel. Nach einem herzhaften Frühstück schickte Tante Esther sie unter vielen Abschiedsworten und überschwänglichem Winken auf den Weg. Als sie Tante Esthers Haus hinter einer Kurve schließlich aus dem Blick verloren, wandte Melisande sich vom Fenster ab und sah zu Jasper hinüber.
„Wann werden wir bei Sir Alistair eintreffen?”
„Noch heute, wenn wir gut vorankommen", erwiderte Jasper.
Wie immer hatte er die Beine quer über den Kutschenboden gestreckt und lümmelte lässig auf seinem Sitz, doch um den Mund hatte er einen missmutigen Zug. Was dachte er wohl jetzt von ihr? Als sie an diesem Morgen aufgestanden waren, sich angezogen und gefrühstückt hatten, hatte er sie nicht anders behandelt als sonst auch, doch ihr Geständnis musste ein Schock für ihn gewesen sein. Ein Mann rechnete wohl kaum damit, dass seine junge Braut sich dereinst einen Liebhaber genommen hatte und, schlimmer noch, von diesem geschwängert worden war.
Melisande sah wieder beiseite und starrte blicklos zum Fenster hinaus. Ihr Mann hatte es erstaunlich gut aufgenommen — doch was, wenn er seine Meinung änderte, je länger er darüber nachdachte? Würde das Wissen, dass sie in der Hochzeitsnacht nicht mehr unberührt gewesen war, nicht doch als stille Wut in ihm zu schwelen beginnen? Würde er sich gegen sie wenden? Die Zeit würde es zeigen; noch ließ es sich nicht sagen. Jedoch war sie voller Sorge und nahm kaum das grau verhangene schottische Hochland war, das draußen vorüberzog.
Am Ufer eines rauschenden Baches hielten sie zur Mittagsrast und stärkten sich mit Brot und Schinken, Käse und Wein, die Tante Esthers Köchin ihnen eingepackt hatte. Mouse rannte wie wild umher und bellte ein paar Hochlandkühe an — struppige Viecher, denen das zottelige Fell tief in die Augen hing —, bis Jasper ihm zurief, er solle damit aufhören. Sofort kam der Terrier zurückgetrottet, legte sich brav hin und vergnügte sich mit einem Schinkenknochen.
Sie fuhren den ganzen Nachmittag hindurch, und als die Dämmerung hereinbrach, merkte Melisande, dass Jasper unruhig zu werden begann.
„Haben wir uns verfahren?", fragte sie.
„Der Kutscher hat mir versichert, sich mit dem Weg auszukennen", erwiderte Jasper.
„Du warst noch nie bei Sir Alistair?"
„Nein."
Die nächste halbe Stunde fuhren sie schweigend. Sally war neben Melisande eingeschlummert, obwohl die Kutsche heftig rumpelte und schwankte. Dann endlich, gerade als auch das letzte Licht des Tages schwand, hörten sie einen der Lakaien rufen, dass sie da seien. Melisande spähte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit und meinte die Umrisse eines großen, alten Gemäuers zu erkennen.
„Lebt dein Freund auf einer Burg?"
Nun sah auch Jasper zum Fenster hinaus. „Scheint so."
Langsam bog die Kutsche in eine schmale Zufahrt ein, dann ruckelten und holperten sie zur Burg hinauf. Sally fuhr erschrocken aus dem Schlaf und wusste im ersten Moment kaum, wo sie war. Angestrengt sah Melisande zum Fenster hinaus, doch nirgends war auch nur ein schwaches Licht zu erkennen.
„Sir Alistair weiß aber, dass wir kommen, oder?"
„Ich habe ihm geschrieben", entgegnete Jasper.
Melisande musterte ihren Gatten argwöhnisch. „Und hat er geantwortet?"
Jasper tat, als hätte er ihre Frage nicht gehört, womit denn auch alles gesagt war. Als sie vor dem düsteren Bau hielten, gab es draußen wieder Rufen und Betriebsamkeit, Lakaien sprangen vom Wagen, dann wurde der Schlag geöffnet.
Mr Pynch hielt eine Laterne hoch, die unheimliche Schatten auf sein finster blickendes Gesicht warf. „Es macht niemand auf, Mylord."
„Dann müssen wir eben lauter klopfen", beschied Jasper.
Er sprang aus dem Wagen und half Melisande heraus. Sally kam recht zögerlich hinterhergeklettert, doch Mouse konnte es gar nicht schnell genug gehen. Im Nu war er zu ein paar Büschen
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