Das Geheimnis des Viscounts
zurück. Jasper sah der Sache mit gemischten Gefühlen entgegen, aber es musste getan werden. Sollte Horn tatsächlich der Verräter sein, musste er zur Rechenschaft gezogen werden.
Eine halbe Stunde später ließ er sein Pferd vor Matthew Horns Haus halten. Er betrachtete das alte Gemäuer und sann über die Familie nach, die seit Generationen hier gelebt hatte. Horns Mutter war alt und gebrechlich, ans Bett gefesselt. Bei Gott, was für eine grässliche Angelegenheit. Doch es half alles nichts. Seufzend sprang Jasper aus dem Sattel und marschierte in grimmiger Entschlossenheit die Treppe zum Haus hinauf. Er klopfte und wartete, insgeheim erleichtert, Pynch hinter sich zu wissen.
Lange rührte sich gar nichts. Totenstille herrschte im Haus, kein Laut drang hinaus. Jasper trat einen Schritt zurück und blickte zu den Fenstern hinauf. Keine Bewegung. Er runzelte die Stirn und klopfte noch einmal, jetzt etwas nachdrücklicher. Wo steckten denn die Dienstboten? Hatte Horn Weisung erteilt, ihn nicht hereinzulassen?
Gerade hatte er die Hand erhoben, um ein weiteres Mal zu klopfen, als die Tür sich einen Spaltbreit öffnete. Ein sehr junger, sichtlich verstörter Lakai spähte heraus.
„Ist dein Herr zu Hause?", fragte Jasper.
„Ich glaube schon, Sir."
Er glaubte? Was sollte das denn heißen? Jasper legte den Kopf schräg. „Dürften wir dann wohl hereinkommen?"
Der Lakai errötete und öffnete ihnen die Tür. „Gewiss, Sir. Verzeihen Sie, Sir. Wenn Sie bitte in der Bibliothek warten würden. Ich sage Mr Horn Bescheid."
„Danke." Jasper ging — Pynch im Gefolge — durch die Halle in die Bibliothek und schaute sich um.
Alles sah genauso aus wie bei seinem letzten Besuch hier. Auf dem Kaminsims tickte eine Uhr, von draußen drang gedämpfter Straßenlärm herein. Jasper schlenderte zu der Weltkarte hinüber und vertrieb sich die Zeit damit, das vermeintlich fehlende Italien ausfindig zu machen. Die Karte hing neben zwei Ohrensesseln und einem kleinen Tisch, die in der Ecke des Zimmers standen. Als er näher trat, hörte er ein leises Wimmern. Noch ehe Jasper sich über einen der Sessel gebeugt hatte, um zu sehen, was da los war, hatte Pynch sich auch schon an seiner Seite eingefunden.
Zwei Personen kauerten hinter den Sesseln auf dem Boden: eine Frau, die einen Mann in ihrem Schoß hielt, wiegte sich leise wimmernd vor und zurück. Der Rock des Mannes war blutverschmiert, und aus seiner Brust ragte ein Dolch, was wenig Zweifel daran ließ, dass er tot war.
„Was ist denn hier passiert?", wollte Jasper entsetzt wissen. Die Frau blickte zu ihm auf. Sie war hübsch, mit schönen blauen Augen, doch ihr Gesicht war aschfahl, die Lippen bleich.
„Er hat mir ein Vermögen versprochen", erklärte sie. „Genügend Geld, um aufs Land zu ziehen und ein Wirtshaus zu pachten. Er hat gesagt, er würde mich heiraten und wir würden reich sein."
Wieder senkte sie den Blick und wiegte sich in stummer Verzweiflung.
„Es ist der Butler, Mylord", erklang Pynchs Stimme hinter ihm. „Mr Horns Butler — der, mit dem ich kürzlich gesprochen habe."
„Pynch, holen Sie Hilfe", wies Jasper ihn an. „Und schauen Sie, dass Horn nichts passiert ist."
„Nichts passiert!" Die Frau lachte hysterisch, während Pynch bereits davoneilte. „Das war doch er! Er hat ihn erstochen und hier liegen lassen wie ein paar alte Lumpen."
Ungläubig starrte Jasper sie an. „Was sagen Sie da?"
„Mein Mann hat einen Brief gefunden", flüsterte die Frau mit Blick auf den Toten. „Einen Brief an einen französischen Gentleman. Mein Mann meinte, Mr Horn hätte während des Krieges Geheimnisse an die Franzosen verkauft. Wenn wir den Brief unserm Herrn verkaufen würden, könnten wir ein Vermögen machen, hat er gesagt. Und endlich ein Wirtshaus auf dem Land erwerben."
Jasper hockte sich neben sie. „Er hat versucht Horn zu erpressen?"
Sie nickte. „Wir würden reich sein, hat er gesagt. Ich habe mich hier hinter dem Vorhang versteckt, als er mit Mr Horn reden und ihm von dem Brief erzählen wollte. Aber Mr Horn ..."
Ihre Worte gingen in einem herzzerreißenden Schluchzen unter.
„ Matthew hat das getan?" So langsam begriff Jasper das ganze Ausmaß dieser Tragödie. Der Kopf des Butlers hing schlaff auf der blutigen Brust, wurde vom Weinkrampf seiner Geliebten geschüttelt.
„Mylord", ließ Pynch sich vernehmen.
Jasper blickte auf.
„Die Bediensteten sagen, dass Mr Horn nirgends zu finden sei."
„Er ist hinter dem Brief her",
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