Das Geheimnis des Viscounts
vom Gesicht und warf es auf den Tisch. „Besonders gefallen hat mir die Geschichte, als du dir mit vier Jahren die Haare abgeschnitten hast."
„So?" Sie legte das Messer auf den Tisch und nahm sich ein kleines Tuch, tunkte es in die Seifenschale und begann sein Gesicht einzureiben, bis es ordentlich schäumte. Der Duft von Zitronenöl und Sandelholz erfüllte das Zimmer.
„Mmmm." Er schloss die Augen und ließ den Kopf zurücksinken. Wie ein Kater, der sich streicheln lässt, dachte sie. Ein großer, zufrieden schnurrender Kater. „Und die Geschichte mit der Tinte."
Sie hatte sich mit Tinte Bilder auf den Arm gemalt und war einen Monat lang tätowiert herumgelaufen.
„Es freut mich, dir Quell solcher Freude gewesen zu sein", meinte sie.
Eines seiner strahlend blauen Augen öffnete sich argwöhnisch.
Lächelnd legte sie das Rasiermesser an seinen Hals, hielt inne und sah ihn an. „Ich habe mich schon oft gefragt, wohin du abends so gehst."
„Ich ..."
„Ah, ah." Sie legte ihm den Finger an die Lippen, spürte seinen Atem warm auf ihrer Haut. „Du willst doch nicht, dass ich dich schneide, oder?"
Er machte den Mund wieder zu, kniff die Augen leicht zusammen.
Vorsichtig setzte sie zum ersten Streich an. Das Geräusch des über seine Haut schabenden Messers klang unglaublich laut in der Stille des Zimmers. Mit einer routinierten Bewegung schüttelte sie den Schaum von der Klinge und setzte abermals an. „Ich habe mich gefragt, ob du dich mit Frauen triffst, wenn du ausgehst."
Wieder wollte er etwas erwidern, doch sie zog sanft seinen Kopf nach hinten und fuhr an seinem Unterkiefer entlang. Sie sah ihn schlucken, und wie sein Adamsapfel sich in seinem kräftigen Hals auf und ab bewegte, doch ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass er keine Angst hatte. Ganz im Gegenteil.
„Ich mache nichts Besonderes", ließ er sie wissen, während sie das Messer abwischte. „Bälle, Soireen, irgendwelche Veranstaltungen. Du könntest mich ruhig begleiten. Wenn mich nicht alles täuscht, hatte ich dir angeboten, morgen Abend mit mir auf Lady Grahams Maskenball zu gehen."
„Hmmm." Seine Worte linderten ein wenig die Eifersucht, die in ihrer Brust brannte. Was auch gut war, denn sein Kinn verlangte all ihre Aufmerksamkeit. So viele kleine Krümmungen und Vertiefungen, die nur darauf warteten, der scharfen Klinge in die Quere zu kommen. Geselligkeiten, wo man elegant plaudern und sich zeigen musste, waren nicht ihr Fall. Gesellschaften, auf denen man ständig lächeln und flirten musste und nie um eine geistreiche Antwort verlegen sein durfte. Diese Art der unverbindlichen Konversation war nie ihre Stärke gewesen, und sie hatte sich längst damit abgefunden, dass sich daran nichts ändern würde. Als er den Maskenball erwähnt hatte, war ihr die Entscheidung leichtgefallen. Ja, sie hatte nicht einmal darüber nachdenken müssen.
„Du könntest mit mir kommen", murmelte er, fast ohne seine Lippen zu bewegen. „Mich abends begleiten."
Sie blickte auf ihre Hände hinab. „Oder du könntest mit mir zu Hause bleiben."
„Nein." Er verzog die Lippen zu einem traurigen, selbstironischen Lächeln. „Mein Wesen ist viel zu wankelmütig, als dass Abende vor dem heimischen Kamin mich lange amüsieren könnten. Ich brauche Menschen um mich, Plauderei und Gelächter." Also all das, was ihr zuwider war. Gereizt schwenkte sie das Messer im heißen Wasser.
Er räusperte sich. „Aber ich treffe mich nicht mit anderen Frauen, wenn ich ausgehe, liebste Gemahlin."
„Nein?" Sie sah ihm tief in die Augen, während sie das Messer sanft über seine Wange zog.
„Nein." Er erwiderte ihren Blick, klar und aufrichtig.
Sie schluckte und legte das Messer beiseite. Seine Wangen waren glatt und geschmeidig, nur am Mundwinkel war noch eine feine Seifenspur. Vorsichtig wischte sie sie mit dem Daumen fort.
„Das freut mich", flüsterte sie, ihre Stimme auf einmal ganz rau. Sie beugte sich über ihn, ließ ihre Lippen dicht an seinem Mund verharren. „Gute Nacht."
Dann hauchte sie einen flüchtigen Kuss auf seine Lippen. Sie spürte, wie er die Arme nach ihr ausstreckte, und entzog sich ihm geschwind.
Kapitel 7
Die Prinzessin dieser prächtigen Stadt ward Immerschön genannt, und wiewohl Prinzessin Immerschön schöner war, als ein Mann es sich je erträumen konnte, mit Augen wie funkelnde Sterne und einer Haut so glatt wie Seide, war sie auch eine furchtbar hochmütige junge Dame und hatte noch keinen Mann gefunden, den zu
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