Das Geheimnis des Viscounts
düsteren Korridor hinab.
„Ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat", meinte Jasper. Melisande schüttelte nur den Kopf und trat ins Haus.
Ihre Tante musste entweder eine tiefe Abneigung gegen Kerzen haben oder aber sie konnte im Dunkeln sehen, denn im Haus war es stockfinster.
Jasper kniff die Augen zusammen. „Wo ist er jetzt hin?"
„Hier entlang.” Melisande ging voraus, als wisse sie genau, wohin sie mussten.
Und tatsächlich: Nachdem sie eine Weile durch düstere Korridore gegangen, um ein paar Ecken gebogen und etliche Stufen hinaufgestiegen waren, kamen sie zu einer Tür — und dahinter schien Licht!
„Wer ist da?", ertönte eine gereizte Stimme aus dem Zimmer. „Miss Fleming und ein Gentleman, Ma'am", erwiderte der betagte Butler.
„Lady Vale", schrie Jasper, als sie eintraten.
„Was?" Eine zierliche alte Dame saß aufrecht auf einem Liegesofa, umgeben von viel weißer Spitze, Rüschen und Bändern. Sie hielt sich ein langes Hörrohr aus Messing ans Ohr, das sie nun in ihre Richtung schwenkte. „Was?"
Jasper beugte sich vor und sprach in den geschwungenen Trichter. „Sie ist jetzt Lady Vale."
„Wer?" Sichtlich mit ihrer Geduld am Ende, ließ Miss Rockwell das Hörrohr sinken. „Melisande, mein Schatz, wie schön, dich zu sehen, aber wer ist dieser Gentleman? Er behauptet, eine Lady zu sein. Da kann doch was nicht stimmen."
Jasper spürte, wie ein ersticktes Lachen die schmale Gestalt seiner Gattin erbeben ließ, und wurde von dem wilden Drang erfasst, sie zu küssen, beherrschte sich aber, wenngleich mit Mühe.
„Das ist Lord Vale", erklärte Melisande. „Mein Mann."
„Was du nichts sagst." Die alte Dame schien von der Neuigkeit nicht sonderlich angetan. „Und warum bringst du ihn mit hierher?"
„Ich wollte Sie kennenlernen", mischte Jasper sich ein, der es leid war, dass man über ihn sprach, als sei er nicht da.
„Was?"
„Ich habe mir sagen lassen, dass es hier den besten Kuchen der ganzen Stadt gibt", brüllte er.
„Nicht so laut, junger Mann!" Die alte Dame riss den Kopf zurück, dass die Bänder ihrer Haube nur so flatterten. „Wo haben Sie denn das gehört?"
„Oh, überall", erwiderte Jasper nonchalant. Er ließ sich auf einem Sofa nieder und zog seine Frau neben sich. „Stimmt es etwa nicht?"
Die alte Dame schürzte die Lippen auf eine Weise, die er mittlerweile von Melisande kannte. „Nun, meine Köchin backt durchaus guten Kuchen."
Sie nickte dem Butler zu, der etwas überrascht schien, davongeschickt zu werden.
„Fantastisch." Jasper lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Und jetzt erzählen Sie mal, was meine Frau als Kind so alles angestellt hat."
„Lord Vale!", rief Melisande.
Er sah sie an. Ihre Wangen schimmerten rosig, ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie war reizend, ganz reizend.
Er beugte sich zu ihr vor. „Jasper."
Sie schürzte die Lippen.
Sein Blick flog zu ihrem Mund, dann sah er wieder hoch und begegnete dem ihren. „Jasper."
Sie öffnete die Lippen, weich, verletzlich, leise zitternd — und welch ein Glück, dass seine Rockschöße seinen Schoß bedeckten. „Jasper", flüsterte sie.
Und in diesem Moment wusste er, dass es um ihn geschehen war. Er war verloren — blind, taub und heillos verloren —, doch es scherte ihn nicht. Er würde alles geben, um diese Frau zu ergründen. Er wollte ihre tiefsten, verborgensten Geheimnisse erforschen und ihre Seele entblößen. Und wenn er ihre Geheimnisse kannte, wenn er wusste, was sie tief in ihrem Herzen verborgen hielt, würde er alles daran setzen, würde sein Leben geben, es zu beschützen.
Sie war sein zu lieben und zu ehren, zu schützen und vor Leid zu bewahren.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Melisande ihren Gatten an jenem Abend nach Hause kommen hörte. Sie war in ihrem Zimmer eingeschlummert, doch als gedämpfte Stimmen aus der Halle nach oben drangen, war sie mit einem Schlag wieder hellwach. Immerhin hatte sie auf seine Rückkehr gewartet. In gespannter Vorfreude setzte sie sich auf. Mouse steckte das schwarze Näschen unter der Bettdecke hervor und gähnte, dass seine rosa Zunge sich aufrollte.
Sie stupste ihm die Nase. „Du bleibst hier."
Dann stand sie auf und griff nach ihrem Morgenmantel, der neben dem Bett über einem Stuhl hing. Er war schlicht geschnitten, ohne all den Tand wie Schleifen und Rüschen, und von einem dunklen Violett. Melisande zog ihn über ihr feines Batisthemd und erschauerte unter der sinnlichen Schwere des
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