Das Geheimnis des Viscounts
die Straße. Jetzt konnte Melisande den Terrier auch sehen, drüben auf der anderen Straßenseite — und das Herz blieb ihr stehen. Ihr kleiner Liebling hatte sich mit einer riesigen Dogge angelegt. Noch während Melisande wie gelähmt dastand, hatte die Dogge Mouse abgewehrt und schnappte wütend nach ihm. Mouse sprang zurück und entkam nur knapp. Doch dann stürzte er sich wieder vor, unerschrocken wie immer. Etliche Jungen und Männer waren stehen geblieben, um sich den Kampf anzusehen, einige feuerten die Dogge an.
„Mouse!", rief Melisande. Diesmal hielt sie nach Kutschen, Karren und Pferden Ausschau, ehe sie über die Straße zu ihrem Mann eilte. „Mouse!"
Jasper gelangte bei den Hunden an, just als die Dogge sich Mouse endlich geschnappt hatte. Den kleinen Terrier fest in der Schnauze, begann sie ihn kräftig hin und her zu schütteln. Melisande sah es mit Grausen. Sie spürte einen Schrei des Entsetzens in sich aufsteigen, doch kein Laut kam ihr über die Lippen. Kaum auszudenken, wenn die Dogge Mouse das Genick brach!
Und dann griff Jasper ein und hieb mit den Fäusten auf das Maul der Dogge. Leise knurrend wich der große Hund zurück, ließ jedoch nicht von seiner Beute ab.
„Aus!", schrie Jasper. „Lass ihn los, du Teufelsbrut!"
Wieder schlug er auf den Hund ein, während Mouse sich wie wild im Griff seines Gegners wand. Beides zusammen musste zu viel gewesen sein, denn jäh ließ die Dogge Mouse fallen. Kurz sah es so aus, als wolle sie sich stattdessen auf Jasper stürzen, doch der verpasste ihr einen kräftigen Tritt in die Flanken, und damit war es entschieden. Die Dogge sah zu, dass sie davonkam — sehr zur Enttäuschung der geifernden Menge. Mouse wollte die Verfolgung aufnehmen, aber Jasper packte ihn beim Nacken.
„Oh nein, du kleiner Idiot. Du bleibst hier."
Zu Melisandes Entsetzen wand Mouse sich aus Jaspers Griff und hieb seine kleinen, scharfen Zähne in dessen Hand.
„Nein, Mouse!" Entsetzt streckte sie die Hand nach ihrem Hund aus.
Doch Jasper hielt sie zurück. „Nicht. Er rast vor Zorn und könnte dich auch beißen."
„Aber ..."
Mit Mouse an der Hand, der sich noch immer in ihn verbissen hatte, drehte er sich um und sah sie an. Seine Augen schimmerten dunkel, sein Blick war entschlossen und unerbittlich, ganz anders als sie es von ihm kannte, das Gesicht finster und zerfurcht, ohne jede Spur von Belustigung. So, dachte sie plötzlich, muss er ausgesehen haben, wenn er in die Schlacht gezogen ist.
Seine Stimme war klar und kalt. „Hör zu, Melisande. Du bist meine Frau, und ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht. In dieser Angelegenheit darf es keine Nachsicht geben, auch wenn ich dich damit gegen mich aufbringe."
Sie schluckte und nickte benommen.
Einen Moment noch sah er sie an und schien gar nicht zu merken, dass ihm das Blut von der Hand troff. Schließlich nickte er brüsk und meinte: „Gut. Dann tritt zurück und misch dich bitte nicht in das ein, was ich tun muss."
Sie trat zurück und verschränkte die Hände vor sich, damit sie nicht in Versuchung geriete, rettend nach Mouse zu greifen. Sie liebte diesen Hund, obwohl sie natürlich wusste, dass er ein launisches kleines Biest war, das von niemandem außer ihr gemocht wurde. Mouse gehörte ihr, nur ihr, und er erwiderte ihre abgöttische Liebe. Aber Lord Vale war nun einmal ihr Gatte und sie durfte seine Autorität nicht infrage stellen — auch wenn das bedeutete, Mouse zu opfern.
Jasper schüttelte Mouse. Der knurrte, ließ aber nicht von ihm ab. Daraufhin schob Jasper ihm seinen Daumen ins Maul, ganz tief, bis der Hund würgte und losließ. Dann schloss er seine Hand fest um die Hundeschnauze.
„Komm", sagte er zu Melisande, den Hund in beiden Händen. Sowie die Aussicht auf Blut und Gemetzel geschwunden war, hatte sich auch die Menge zerstreut. Jasper führte seine Frau zurück zur Kutsche.
Einer der Lakaien sah sie kommen und eilte ihnen entgegen. „Sind Sie verletzt, Mylord?"
„Nicht weiter schlimm", sagte Jasper. „Gibt es einen Korb oder eine Kiste in der Kutsche?"
„Unter dem Bock steht ein Korb."
„Hat er einen Deckel?"
„Ja, Sir, sogar einen sehr stabilen."
„Dann holen Sie ihn bitte."
Der Lakai eilte zurück zur Kutsche.
„Was hast du vor?", fragte Melisande.
Jasper sah sie kurz an. „Nichts Schlimmes. Er muss nur eingesperrt werden, bis er sich ein bisschen abgeregt hat."
Mouse hatte zu knurren aufgehört. Ab und an machte er noch einen heftigen Versuch, sich ihm
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