Das Geheimnis des Viscounts
zu entwinden, aber Jasper hatte ihn fest im Griff.
Als sie bei der Kutsche ankamen, hatte der Lakai den Korb bereits hervorgeholt und den Deckel geöffnet.
„Sowie er drin ist, machen Sie den Deckel wieder zu", sagt Jasper. „Fertig?"
„Jawohl, Mylord."
Im Nu war es geschehen: der Lakai mit schreckensgroßen Augen, Mouse wie wild um seine Freiheit ringend, Jasper mit grimmiger Entschlossenheit. Und dann war ihr geliebter Sir Mouse eingesperrt und sprang so wütend im Korb herum, dass der Lakai ihn kaum halten konnte.
„Verstauen Sie ihn wieder unter dem Bock", wies Jasper den Diener an, dann nahm er Melisande beim Arm. „Lass uns nach Hause fahren."
Mochte sein, dass sein Verhalten sie befremdet, sie gar gegen ihn aufgebracht hatte, aber es hatte sich eben nicht vermeiden lassen. Jasper beobachtete seine Gemahlin, wie sie ihm in der Kutsche gegenübersaß, den Rücken kerzengerade, die Schultern gestrafft, den Kopf kaum merklich gesenkt, da sie den Blick auf ihren Schoß gerichtet hielt. Ihre Miene gab nichts preis. Eine schöne Frau war sie ja nicht — wie ein Teil von ihm kalt resümierte. Zudem kleidete sie sich so trist und unscheinbar, als setze sie alles daran, nicht aufzufallen oder rasch wieder vergessen zu werden. Er hatte eindeutig schönere Frauen gehabt. Sie war unscheinbar, gewöhnlich.
Und doch arbeitete sein Verstand fieberhaft, plante den nächsten Angriff auf die uneinnehmbare Festung ihrer Seele. Vielleicht war es ja eine Art Wahn, die von ihm Besitz ergriffen hatte und ihn trieb. Er war von ihr fasziniert, wie von einer Zauberfee, die gekommen war, um ihn mit sich in eine andere Welt zu locken.
„Woran denkst du?", fragte sie, ihre Stimme wie ein Kiesel, der in den Strom seiner Gedanken geworfen wurde.
„Ich hatte mir gerade überlegt, ob du wohl eine Fee bist", erwiderte er.
„Nicht schon wieder", seufzte sie und verdrehte die Augen. „Doch, mein Herz, genau das dachte ich."
Sie sah ihn an, ihre hellbraunen Augen unergründlich. Dann senkte sie den Blick auf seine Hand. Sowie sie in der Kutsche gewesen waren, hatte er sich die Bisswunde mit seinem Taschentuch verbunden.
„Tut es noch weh?"
Er schüttelte den Kopf, wenngleich seine Hand zu pulsieren begonnen hatte. „Keine Sorge, nicht weiter schlimm."
Doch sie blickte noch immer auf seine Hand und runzelte besorgt die Stirn. „Wenn wir zu Hause sind, möchte ich, dass Mr Pynch sie dir ordentlich bandagiert. Hundebisse können sehr hässlich sein. Sag ihm, dass er die Wunde gründlich auswaschen soll."
„Ganz wie du wünschst."
Sie schaute aus dem Fenster und verschränkte die Hände im Schoß. „Es tut mir leid, dass Mouse dich gebissen hat."
„Hat er das schon einmal bei dir gemacht?"
Entgeistert sah sie ihn an.
„Ob er dich schon mal gebissen hat, möchte ich wissen." Wenn ja, würde Jasper das kleine Biest töten lassen.
Ihre Augen weiteten sich noch mehr. „Nein. Oh nein, natürlich nicht. Zu mir ist Mouse immer sehr lieb und zutraulich. Um ehrlich zu sein, hat er noch nie jemanden gebissen."
Jasper lächelte trocken."Dann sollte ich mich wohl geehrt fühlen, der Erste gewesen zu sein."
„Was hast du jetzt mit ihm vor?”
„Ihn eine Weile schmoren lassen."
Alle Regung wich aus ihrem Gesicht. Er wusste, wie viel dieser Köter ihr bedeutete; sie hatte ihn ihren treuen Begleiter genannt. Vielleicht war er ja ihr einziger und bester Freund auf dieser Welt.
„Wo hast du ihn eigentlich her?", wollte Jasper wissen.
Sie schwieg so lange, dass er schon meinte, sie würde ihm nicht antworten.
Schließlich seufzte sie. „Er gehörte zu einem Wurf Welpen in den Stallungen meines Bruders. Der Stallmeister wollte sie allesamt ertränken — er meinte, sie hätten schon genügend Rattenfänger. Er hatte alle Welpen in einen Sack geworfen und den Stallburschen losgeschickt, einen Eimer Wasser zu holen. Ich kam gerade in den Hof, als die Welpen aus dem Sack entwischten. Sie rannten in alle Richtungen davon, und die Männer setzten ihnen schreiend nach und versuchten, die armen, verschreckten Tiere wieder einzufangen. Mouse kam zu mir gerannt und hat sich sofort in den Saum meines Rocks verbissen."
„Und da hast du beschlossen, den kleinen Kerl zu retten", schloss Jasper.
„Was hätte ich sonst tun sollen?", meinte sie achselzuckend. „Harold war allerdings nicht gerade begeistert."
Nein, das konnte er sich vorstellen. Ihr behäbiger Bruder war gewiss nicht erfreut gewesen, diese kläffende kleine
Weitere Kostenlose Bücher