Das Geheimnis des Viscounts
Richard war ein kränkliches Kind, und als er eines der kleinen Kätzchen aus den Stallungen mitgebracht hatte ... nun ja, da hat sie wohl mal eine Ausnahme gemacht", schloss er achselzuckend.
„Um wie viele Jahre war dein Bruder älter als du?", fragte sie sanft.
„Zwei Jahre."
„Und wie alt war er, als er starb?"
„Noch keine dreißig." Nun lächelte er nicht mehr. „Er war schon immer schwach gewesen — blass und dünn, oft außer Atem —, aber während ich in den Kolonien war, hat er schweres Fieber bekommen und sich niemals mehr ganz davon erholt. Erst ein Jahr nach meiner Rückkehr habe ich Mutter überhaupt je wieder lächeln sehen."
„Das tut mir leid."
Er winkte ab. „Es ist lange her."
"Dein Vater war da bereits tot, oder?"
„Ja."
Sie sah ihn an, wie er da so lässig in der Kutsche lümmelte und ganz beiläufig vom vorzeitigen Tod seines Bruders und dem seines Vaters sprach. „Es muss schwer für dich gewesen sein."
„Obwohl Richard so oft krank war, wäre mir nie der Gedanke gekommen, ich könnte eines Tages den Titel erben. In der Familie sind alle davon ausgegangen, dass er zumindest lang genug leben würde, um einen Erben zu zeugen." Unvermittelt sah er sie an und zog leicht belustigt den Mundwinkel hoch. „Sein Körper mag schwach und anfällig gewesen sein, aber mein Bruder hatte einen starken Willen. Ganz gleich, wie schlecht es ihm ging, er hielt sich wie ein Viscount. Er verstand es, Menschen für sich einzunehmen, sie zu führen. Auf sein Wort wurde gehört."
„Darin seid ihr euch ähnlich", erinnerte sie ihn ruhig.
Er schüttelte den Kopf. „Du kanntest ihn nicht. Was das angeht, reiche ich nicht annähernd an ihn heran. Oder an Reynaud." Das konnte sie nur schwer glauben. Lord Vale mochte sich häufig über sich selbst lustig machen, Witze reißen und den Narren spielen, aber andere hörten auf sein Wort. Wenn er einen Raum betrat, war seine Präsenz spürbar. Sowohl Männer als auch Frauen wurden von ihm angezogen, kreisten um ihn wie um eine kleine Sonne. Das würde sie ihm gern sagen und ihm gestehen, wie sehr auch sie ihn bewunderte, aber die Furcht, zu viel von ihren Gefühlen preiszugeben, ließ sie schweigen.
Die Kutsche fuhr nun langsamer, und als Melisande aus dem Fenster schaute, sah sie, dass sie bereits in der Bond Street waren.
Der Schlag wurde geöffnet, Jasper sprang heraus und reichte ihr seine Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Sie stand auf und spürte, wie seine Finger sich kräftig und warm um die ihren schlossen. Anmutig stieg sie aus, und Mouse sprang ihr hinterher. Die Straße war von eleganten Ladengeschäften gesäumt; vornehme Damen und Herren schlenderten an den Schaufenstern vorbei.
„Wohin soll es gehen, liebstes Weib?", fragte Jasper und reichte ihr seinen Arm. „Du führst, und ich folge."
„Erst mal hier entlang", erwiderte Melisande. „Ich wollte ein wenig Schnupftabak kaufen."
Sie spürte, wie er sie ansah. „Hältst du es etwa wie unsere Königin und frönst diesem extravaganten Laster?"
„Oh nein." Schon der Gedanke ließ sie die Nase krausen, ehe sie sich entsann, wo sie war und ihre Miene zur Mäßigung zwang. „Er ist für Harold. Zum Geburtstag schenke ich ihm immer eine kleine Dose seines Lieblingstabaks."
„Da kann Harold sich aber glücklich schätzen."
Fragend sah sie ihn an. „Warum? Frönst du etwa diesem Laster?"
„Nein." Seine blauen Augen waren voller Wärme, als er sie anblickte. „Ich bezog mich auf sein Glück, eine so treu sorgende Schwester zu haben. Hätte ich geahnt, dass ..."
Doch ein scharfes Bellen von Mouse schnitt ihm das Wort ab. Melisande fuhr herum und sah den Terrier auf die belebte Straße rennen.
„Mouse!", rief sie und machte einen Schritt zur Seite. Sie durfte ihn nicht aus den Augen verlieren.
„Warte!" Jasper packte sie beim Arm und hielt sie zurück.
Sie versuchte sich loszureißen. „Lass mich! Er wird sich etwas tun."
Jasper zog sie just in dem Augenblick von der Straße zurück, als ein schwerer Brauereikarren vorbeirumpelte. „Besser er als du."
Auf der anderen Straßenseite hörte sie Schreie, lautes Knurren, und dann Mouse, der völlig hysterisch kläffte.
Sie drehte sich zu Jasper um, legte ihre Hand an seine Brust und versuchte, ihm ihre Verzweiflung begreiflich zu machen., „Aber Mouse ..."
Ihr Gatte brummelte Unverständliches, dann meinte er: „Bleib hier, ich hole den kleinen Köter."
Er ließ einen Fuhrkarren vorbei, setzte dann über
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