Das Geheimnis des Viscounts
„Du kennst mich doch überhaupt nicht."
„Nein?" Sie stand auf. „Du wärst vermutlich überrascht, wenn du wüsstest, wie gut ich dich kenne. In zehn Minuten also?" Was? Er blinzelte irritiert. „Was in zehn Minuten?"
Sie lächelte nachsichtig. Vielleicht hatte sie ja ein Faible für Männer, die schwer von Begriff waren. „In zehn Minuten breche ich zum Einkaufen auf."
Und damit huschte sie hinaus und ließ ihn ein wenig verwirrt, aber auch sehr gespannt zurück.
Melisande stand an der Kutsche und besprach sich gerade mit Sally, als Jasper kurz darauf aus dem Haus geeilt kam. Hurtig sprang er die Treppe herunter und schlenderte dann zu ihnen herüber.
„Fertig?", fragte Melisande.
Er breitete die Arme aus. „Ich stehe ganz zu deiner Verfügung, teure Gemahlin." Er nickte Sally zu. „Sie können gehen."
Ihre kleine Kammerzofe wurde rot und sah Melisande besorgt an. Für gewöhnlich begleitete Sally sie bei ihren Einkäufen, um sie bei der Auswahl der Kleider zu beraten und die Pakete zu tragen. Auch Jasper sah sie an und schien nur darauf zu warten, dass sie widersprechen würde.
Melisande lächelte schmal und nickte ihrer Zofe zu. „Vielleicht kannst du derweil die Stopfarbeit erledigen."
Sally knickste artig und verschwand ins Haus.
Als Melisande sich wieder ihrem Mann zuwandte, beäugte der Mouse, welcher sich an ihre Röcke schmiegte.
Ehe er auch noch den Hund fortschicken konnte, sagte sie: „Sir Mouse ist mein treuer Begleiter."
„Aha."
Sie nickte, da diese Angelegenheit nun geklärt war, und stieg auf den Kutschentritt. In Fahrtrichtung ließ sie sich nieder, und Sir Mouse sprang neben sie aufs Polster. Jasper nahm ihr gegenüber Platz und streckte seine Beine seitwärts aus. Ehe er eingestiegen war, hatte die Kutsche sehr geräumig — geradezu riesig — gewirkt, doch nun war aller Raum von Männerknien und Ellenbogen eingenommen.
Er klopfte ans Dach und sah sie dann an, um zu bemerken, wie sie missmutig seine Beine betrachtete. „Stimmt etwas nicht?"
„Nein, nein. Alles in Ordnung."
Sie schaute zum Fenster hinaus. Es war seltsam, auf so engem Raum mit ihm eingepfercht zu sein. Irgendwie zu vertraulich. Und genau das war seltsam. Sie hatte diesem Mann beigewohnt, hatte erst gestern Abend mit ihm getanzt. Nicht zu vergessen die Dreistigkeit, mit der sie ihm sein Hemd ausgezogen und ihn rasiert hatte. Doch all das war nachts geschehen, bei Kerzenschein. Nachts fielen ihr viele Dinge leichter. Die Dunkelheit machte ihr Mut. Vielleicht war sie ja wirklich die Herrin der Nacht, wie er sie genannt hatte. Und wenn ja, was war dann er? Herr des Tages?
Sie beobachtete ihn verstohlen. Meist war er tagsüber mit ihr zusammen. Stellte ihr beim hellen Schein des Tages nach. Nachts mochte er auf Bälle und in Spielhöllen gehen, aber tagsüber versuchte er, ihre Geheimnisse zu ergründen. Vielleicht weil er spürte, dass sie sich schwächer, verletzlicher fühlte? Oder weil er dann stärker war?
Oder vielleicht beides?
„Begleitet es dich überall hin?"
Jäh aus ihren Gedanken gerissen, sah sie ihn fragend an. „Wie bitte?"
Er deutete mit dem Kinn auf Mouse, der sich neben ihr auf dem Sitz zusammengerollt hatte.
„Sir Mouse ist ein Er, kein Es ", stellte sie klar. „Und ja, ich nehme ihn überallhin mit, wo es ihm gefallen könnte."
Jaspers Brauen schossen in die Höhe. „Der Hund geht gern Einkaufen?"
„Er fährt gern in der Kutsche." Sie streichelte Mouses weiches Näschen. „Hattest du nie ein Haustier?"
„Nein. Oder doch, als ich klein war, hatten wir eine Katze, aber die kam nie, wenn ich sie gerufen habe, und wenn ihr etwas nicht passte, hat sie die Krallen ausgefahren und einen gekratzt. Wenn ich mich recht entsinne, hat ihr ziemlich oft etwas nicht gepasst."
„Wie hieß sie denn?"
„Katze."
Sie sah ihn an. Seine Miene war ernst, doch in seinen blauen Augen blitzte der Schalk.
„Und du?", erkundigte er sich liebenswürdig. „Hattest du als Kind Haustiere, liebe Gemahlin?"
„Nein." Abrupt wandte sie sich ab und sah zum Fenster hinaus. Sie hatte nicht die geringste Lust, sich in Erinnerungen an ihre einsame Kindheit zu verlieren.
Er schien ihren Unwillen zu spüren, über diese Zeit zu sprechen, und drängte sie ausnahmsweise nicht weiter. Einen Moment schwieg er, dann meinte er leise: „Eigentlich war es Richards Katze."
Gespannt sah sie ihn an.
Er grinste schief, als sei er über sich selbst belustigt. „Mutter mochte eigentlich keine Katzen, aber
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