Das Geheimnis des Viscounts
interessant.
„Wir kennen uns aus der Armee und waren damals gute Freunde, haben uns seitdem aber auseinandergelebt."
„Du sprichst nie von deiner Zeit in der Armee."
Er zuckte die Schultern. „Das ist sechs Jahre her."
Sie ließ ihn nicht aus den Augen. „Wie lange standest du in Diensten?"
„Sieben Jahre."
„Und du warst Offizier?"
„Ganz genau."
„Dann warst du auch im Krieg."
Wieder keine Frage, sondern eine Feststellung. Er wusste nicht, ob er darauf antworten sollte. Sollte er ihr etwa vom Krieg in den Kolonien erzählen, von Schweiß und Blut und den Schreien der Sterbenden? Dem Kanonendonner, dem Rauch und der Asche, den Leichen auf den Schlachtfeldern?
Er trank einen Schluck Tee, um den sauren Geschmack loszuwerden, der in ihm aufstieg. „Ich war bei der Eroberung von Quebec dabei. Eine Geschichte, mit der ich eines Tages unsere Kinder und Enkel zu beeindrucken hoffe."
Sie sah beiseite. „Aber Lord St Aubyn ist nicht in der Schlacht um Quebec umgekommen."
„Nein." Er lächelte grimmig. „Hältst du das für ein bekömmliches Thema für den Frühstückstisch?"
Sie zeigte sich unbeeindruckt. „Sollte eine Frau denn nicht alles über ihren Mann wissen?"
„Meine Zeit in der Armee ist bestimmt nicht alles, was mich ausmacht."
„Nein, aber recht viel, wie mir scheint."
Was sollte er dazu sagen? Sie hatte natürlich recht. Und sie schien es zu wissen, musste es irgendwie erfahren haben, wenngleich er nicht wüsste, dass er ihr je Anlass zu derlei Vermutungen gegeben hätte. Sie wusste, dass er als ein anderer zurückgekehrt war, dass die Ereignisse in den Wäldern Amerikas für immer Narben hinterlassen und ihn zu einem Schatten seiner selbst gemacht hatten. Sah man es ihm an, wie ein Teufelsmal? Und was sah sie noch alles? Wusste sie womöglich auch um seine größte, schwerste Schuld?
Nein, das konnte nicht sein. Durfte nicht sein. Wenn sie es wüsste, stünde Verachtung in ihrer Miene. Er senkte den Blick und brach noch ein Stück von seinem Brötchen ab.
„Vielleicht möchtest du mich ja doch lieber nicht begleiten?", kam es liebenswürdig von seiner Gemahlin.
Er blickte auf. Durchtriebenes Geschöpf. „So leicht schlägst du mich nicht in die Flucht."
Ihre Augen weiteten sich kaum merklich. Vielleicht war ihm sein Lächeln etwas zu breit geraten, vielleicht hatte sie gesehen, was dahinter in dunklen Tiefen lauerte. Aber tapfer war sie, das musste man ihr lassen. Fast noch unerschrockener als er.
„Dann erzähl mir davon", sagte sie. „Von der Armee."
„Da gibt es nicht viel zu erzählen", log er. „Ich war Captain im achtundzwanzigsten Infanterieregiment."
„Genau wie Lord St Aubyn”, stellte Melisande fest. „Habt ihr das Offizierspatent gemeinsam erworben?"
„Ja, haben wir." Jung waren sie gewesen, und verdammt draufgängerisch. Und dumm. Am meisten hatte ihn die schneidige Uniform interessiert.
„Ich habe Emelines Bruder nie kennengelernt", sagte Melisande. „Zumindest nicht richtig. Ein oder zweimal habe ich ihn kurz gesehen. Wie war er so?"
Er schluckte den Rest seines Brötchens hinunter und versuchte Zeit zu schinden, während er an Reynauds schiefes Grinsen und seine dunklen, lachenden Augen dachte. „Reynaud wusste, dass er eines Tages den Earlstitel erben würde. Sein ganzes Leben war eine Vorbereitung auf diesen Tag."
„Was meinst du damit?"
Er zuckte die Schultern. „Als Kind war er ungewöhnlich ernst. Die Bürde der Verantwortung lastet schwer auf einem Mann, selbst in ganz jungen Jahren. Richard war genauso."
„Dein großer Bruder", murmelte sie.
„Ja. Er und Reynaud waren sich sehr ähnlich." Schmerzlich verzog er den Mund bei der Erinnerung. „Reynaud hätte sich ihn zum Freund wählen sollen, nicht mich."
„Aber vielleicht hat Reynaud in dir etwas gesehen, das ihm selbst fehlte."
Jasper neigte bedächtig den Kopf. Die Vorstellung, dass er über erstrebenswerte Eigenschaften verfügte, die Richard, sein perfekter älterer Bruder, nicht besessen hatte, schien lächerlich, wenngleich verlockend. „Zum Beispiel?"
Sie hob die Brauen. „Lebensfreude?", schlug sie vor.
Er starrte sie an. Sah sie wirklich auch nur einen Hauch von Lebensfreude in der leeren Hülle, die von ihm geblieben war? „Vielleicht."
„Sehr wahrscheinlich sogar. Du warst ein Freund, der es faustdick hinter den Ohren hatte und mit dem es nie langweilig wurde. Wie hätte er dir widerstehen sollen?"
„Das kannst du doch gar nicht wissen", stieß er hervor.
Weitere Kostenlose Bücher