Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
bescheidenen Möglichkeiten ein Erfolg. Arjen hatte mit seiner Wahrnehmung, dass die Menschen sich nach der Gelegenheit sehnten, einige unbeschwerte Stunden miteinander zu verbringen, richtiggelegen. Mit seinen Plänen war er durchweg of fene Türen eingelaufen und auf mehr helfende Hände gestoßen, als er in seinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Nicht einmal die Kommandantur brachte einen Einwand vor und beschränkte sich darauf, das Treiben bis zum späten Nachmittag zu gestatten. Mehr wollte Arjen auch gar nicht, seiner Meinung nach war es eher von Vorteil, das Fest enden zu lassen, ehe die ersten Betrunkenen anfingen, Ärger zu machen. Während die grob geschreinerte Rednerbühne kurzerhand auch für den Shantychor diente und später für Birchers Auftritt mit seinem Schifferklavier, wurde auf dem Marktplatz davor ausgiebig getanzt. Am Rand standen die zwei hart erkämpften Fässer Bier, und der Wirt des Sturmwind brachte Tabletts mit Schmalzbroten und Kochkäse. Die Frauen hatten sich das Haar frisiert, und einige hatten sogar Lippenstift aufgetragen, wobei es sich dem Farbton nach zu urteilen bei allen um ein und denselben Stift handelte. Man sah die selten gewordenen Sonntagskleider und Schuhe mit Hacken. Die strengen, mit Wasser gezauberten Seitenscheitel der Jungen lösten sich beim Herumtoben, und die Mädchen mit Blumenkränzen im Haar und die jüngeren Frauen tanzten in Ermangelung männlicher Tanzpartner miteinander. Zuvor war das Fehlen der jüngeren Männer zwar in aller Munde gewesen, aber erst heute wurde es augenscheinlich.
Arjen, der noch nie zuvor getanzt hatte, profitierte davon, nicht bloß, weil ihm kein Mädchen einen Tanz ausschlug, sondern weil er geradezu genötigt wurde, von einem Paar Arme ins nächste zu fallen. Nach einer Weile überkam ihn ein Schwindel, jedoch nicht wegen der prallen Sonne oder der vielen Drehungen. Es war der Duft weicher Haut, leicht geöffneter Lippen und das Erspüren von Rundungen unter den Kleidern, wenn die jungen Frauen sich an ihn pressten, damit auch der nächste Tanz der ihre war. Seit Dörchen nicht mehr im Reetdachhaus arbeitete, hatte Arjen vergessen, wie wunderbar es war, einer Frau nah zu sein, wie verlockend der Gedanke war, mit den Lippen die zarte Haut zu erkunden und mit den Fingerspitzen der Wärme ihrer Schenkel zu folgen. Waren die Empfindungen, die Dörchen bei ihm als fast Zwölfjährigem wachgerufen hatte, noch ungenau und teils verstörend gewesen, fühlte sich Arjen jetzt regelrecht erweckt. Er bekam gar nicht genug davon, den Arm um eine geschwungene Hüfte zu legen und die Hand wie zufällig tiefer wandern zu lassen, bis seine Tanzpartnerin wissend lächelte und sich enger an ihn schmiegte. Dabei war es ihm nicht wichtig, mit welcher der jungen Damen er über die Pflastersteine des Marktplatzes glitt, Hauptsache sie berieselte ihn mit dieser speziellen weiblichen Magie, die seinen unablässig arbeitenden Geist betäubte und stattdessen seinen ansonsten oft unnützen Körper elektrisierte. Sie waren alle wundervoll. Jede von ihnen beherrschte die Kunst, ihn um den Verstand zu bringen. Wieso war es ihm nie zuvor aufgefallen, dass Frauen eine solche Macht besaßen?
Alles schwebte an Arjen vorbei: die missbilligende Miene seines Vaters, der das Fest ohnehin für eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen hielt … Jörg Claußen, der nach einer beklatschten Ansprache Hände schüttelte, während der alte Rasmus Ennenhof ihm wie sein Schatten folgte, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht … Sein Sohn Ole, der ein Bierglas nach dem anderen leerte, anstatt seine wunderschöne Verlobte über die Tanzfläche zu wirbeln, bis Adele der Warterei müde wurde und das Fest verließ. Er sah Menschen, die sich von Flüchtlingen in Gesprächspartner und Tanzlehrer verwandelten, die auf Beekensiel bislang un bekannte Schrittfolgen vorführten, verschwitzte Kinder schöpfe, die man keinem Lager mehr zuordnen konnte; er hörte Lachen, durchmischt mit fremd klingenden Akzenten; er sah vom Bier gerötete Wangen und bunte Fähnchen, die von den neuen Bewohnern des Denneburg-Hauses im Keller gefunden worden waren.
Nur etwas fehlte – und kaum dass sich Arjen dessen bewusst wurde, wurde ihm klar, dass es das Wichtigste überhaupt war.
Ruben war nicht zum Fest erschienen.
Wenn er es recht bedachte, hatte er seinen Freund in der letzten Zeit nur selten zu Gesicht bekommen, höchstens am späten Abend, wenn sie sich am Nordstrand trafen, wo die Sperrstunde
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