Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Lächeln.
»Der Tod wartet ohnehin schon auf mich, in meinem Alter ist er ein guter Bekannter, den man hinter jeder Ecke treffen kann. Zu deiner Beruhigung kann ich jedoch mitteilen, dass ich keineswegs vorhabe, mich allein in dieses Abenteuer zu stürzen. Greta wird mich begleiten, sie hat mir nämlich ›gemeinsame Zeit‹ geschenkt, und ich habe vor, dieses wunderbare Geschenk in Anspruch zu nehmen. Ein Tapetenwechsel wird uns beiden guttun.«
Während am Tisch zahlreiche Diskussionen gleichzeitig ausbrachen und ein Familiemitglied lauter seine Meinung kundtat als das andere, blickte Greta ihren Großvater nur vollkommen perplex an. Als Arjen mir erzählt hat, wie er in den Dünen Ruben kennengelernt hat … Ist das vielleicht der Moment gewesen, in dem er sich zu dieser Reise entschlossen hat? Dann würde es um sehr viel mehr als bloß um seine Unternehmungslust gehen … Es wäre eine Reise in die Vergangenheit, eine Vergangenheit, die Arjen schon fast vergessen hat. Als ihr Großvater ihr stumm zuprostete, musste sie lächeln. Wie mit Zauberhand war es ihm gelungen, eine Lösung für ihre verschiedensten Probleme zu finden: Anette würde in ihrer Abwesenheit zwangsläufig reichlich Zeit für ihre eigenen Angelegenheiten haben, Greta selbst bekam die Auszeit, die sie dringend brauchte, und würde dabei mit ihrem Großvater zusammen sein, der währenddessen in seiner Vergangenheit schwelgen konnte. Denn darum ging es Arjen bei dieser Reise in erster Linie, oder?
7
Die Luft, die durch das gekippte Fenster drang, war mild, und aus den Boxen des – original 1960er – Blaupunkt-Radios klimperte ein Klavierkonzert. Es war ein klassischer Sonntag im Backsteinhaus, und es fehlte nur noch der Duft von Blechkuchen und frisch gemahlenen Kaffeebohnen.
Greta kniete vor dem Gepäckberg, den sie im Wohnzimmer aufgerichtet hatte. Gerade inspizierte sie das Durcheinander in einem Karton, auf den sie mit hastig hin geschmierten Buchstaben »Diverses« geschrieben hatte. Diverses – dieses Wort passte hervorragend zu ihrem Sammelsurium an Dingen. Es war wirklich erstaunlich, was sie in ihrem Ausnahmezustand alles eingepackt hatte: eine Seifenschale, die ihr nach dem Kauf auf einem Handwerksmarkt sofort heruntergefallen war und nun von einem Sprung geziert wurde, ein Stapel Unterzieh-Shirts, die eigentlich in die Altkleidersammlung gehen sollten, und jede Menge anderer unnützer Dinge. Die Aufgabe, ihre Habe zu sortieren, war eine traurige Angelegenheit, aber so war sie wenigstens zu beschäftigt, um sich mit ihrer durchs Haus irrlichternden Mutter auseinanderzusetzen.
Immer noch verspannte sich augenblicklich Gretas Rückenmuskulatur, wenn sie an den heutigen Morgen dachte.
Nach dem Gottesdienst hatten Anette und ihre Schwägerin Beeke noch einen Spaziergang gemacht, während Greta den Mittagstisch deckte und Arjen Kartoffeln schälte, wobei er mehr das Sonntagsblatt las, auf dem die Schalen landeten. Als die beiden Frauen Seite an Seite die Küche betraten, war klar, dass nun die Diskussion über die Küstenrundreise anstand.
»Vater, wir müssen über diese seltsame Idee reden, die du dir in den Kopf gesetzt hast. Das geht natürlich nicht, so etwas Verrücktes können wir nicht zulassen«, eröffnete Beeke die Schlacht mit ihrer resoluten Art, nur um sogleich von Arjen ausgebremst zu werden.
»Du kannst gern reden, wenn dir danach zumute ist, aber an meiner Entscheidung wird das nichts ändern. Also spar dir die Mühe und trink lieber einen Schluck Tee.« Als Beeke empört nach Luft schnappte, deutete Arjen mit dem Schälmesser auf sie. »Hör auf mich und rede dich nicht weiter ins Unglück, indem du mich wie einen senilen Pflegefall darstellst, der außerstande ist, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich bin vielleicht ein alter Knochen, aber ich werde mir nicht von meiner Tochter auf der Nase herumtanzen lassen, Fräulein.«
Es war Beeke anzusehen, dass ihr Vater schon seit Jahrzehnten nicht mehr in diesem Ton mit ihr gesprochen hatte. Entsprechend perplex entschied sie, dass sie sich wohl besser dem Gemüse widmete.
Anettes Taktik hingegen war subtiler. »Wenn diese Reise schon unbedingt stattfinden muss, dann lass mich dich wenigstens begleiten. In einem Monat sind Herbstferien, bis dahin könnte ich eine hübsche Route entlang der Küste organisieren. Sag ›ja‹, Arjen. Mir wäre gleich leichter ums Herz. Außerdem ist Greta in ihrem Zustand wohl kaum die passende Reisebegleitung. Sie muss erst
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