Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
schlief sogar ein und hauchte in schönster Regelmäßigkeit Nebel auf das polierte Besteck, das halb verdeckt unter seinem Gesicht lag.
»Wenn ich mir einen Vortrag über den CO2-Effekt anhören will, schalte ich die Glotze nach vierundzwanzig Uhr ein«, moserte Tante Beeke, die für ihr loses Mundwerk berüchtigt war. »Bei einem Abendessen erwarte ich Unterhaltung, meine liebe Greta. Weißt du eigentlich, was das ist: Unterhaltung? Bei euch Grünen steht das ja nicht so hoch im Kurs.« Beeke, die eigentlich Elisabeth hieß wie ihre Mutter und das jüngste der drei Geschwister war, lebte in einem restaurierten Bauernhaus bei Eckernförde, das sie jedoch ausgesprochen selten sah. Ihr Mann war als Schiffsarzt unentwegt auf See, und da die Ehe kinderlos geblieben war, verteilte Beeke ihr Übermaß an freier Zeit gleichmäßig auf jeden ihrer Verwandten, der ein Gästezimmer besaß. Da Anette ihre beste Freundin war, war sie praktisch Stammgast im Backsteinhaus. »Diese dröge Ader hat Greta eindeutig von Carsten geerbt«, flüsterte Beeke gerade ihrem Vater Arjen laut genug zu, dass der ganze Tisch es hörte. »Ich habe meinen Bruder – Gott weiß – geliebt, aber er konnte einen zu Tode langweilen mit seiner ewigen Doziererei. Das liegt an dieser idealistischen Ader, wenn du mich fragst.« Bevor Arjen etwas erwidern konnte, wechselte Beeke rasch das Thema und erzählte von einer Ölmaltechnik, die sie seit neuestem für ihre Landschaftsbilder verwendete. In ihren Augen das spannendste Thema schlechthin.
Greta steckte den Seitenhieb ihrer Tante mit einem Lächeln weg, schließlich war sie diese Art von Kommentar von Kindheit an gewöhnt. Es wunderte sie jedoch, dass ihre Mutter nicht sofort eingefallen war, um Beekes Scharfzüngigkeit zu mildern, wie sie es ansonsten stets tat. Doch Anette hatte von dem Zwist gar nichts mitbekommen, sie war viel zu sehr in ein Gespräch mit Thomas Roder, ihrem Tischnachbarn, vertieft. Neugierig beobachtete Greta den Mann, der vor zwei Jahren die Pastorenstelle der Meresunder Gemeinde angetreten hatte und – der rosenboomschen Familientradition gemäß – selbstverständlich eingeladen war. Ein angenehmer Mann um die fünfzig, der mit seinen auffallend schlanken Händen jeden seiner Sätze zu untermalen pflegte. Im Gegensatz zu ihrem alten Pastor kannte er andere Themen als seine bevorstehende Sonntagspredigt und riss die Unterhaltung des gesamten Tisches auch nicht an sich. Vielmehr machte er den Eindruck, als würde ihm Anettes Gesellschaft vollauf genügen. Und auch Anette hatte ihre Antennen untypischerweise nicht in alle Richtungen des Tisches ausgefahren, sondern war ganz bei den erzählenden Händen von Thomas Roder.
»Ich finde es schade, dass ich so selten die Gelegenheit finde, ins Theater zu gehen, obwohl Hamburg nur eine knappe Stunde mit dem Zug entfernt ist«, stellte der Pastor gerade fest. »Dabei hätte ich große Lust, die Neuinszenierung des ›Sommernachtstraums‹ zu sehen und anschließend ganz gemütlich bei einem Glas Wein darüber zu reden.«
Anette lächelte verträumt, als sähe sie sich schon an der Seite dieses stattlichen Mannes durchs Thalia Theater flanieren. Offenbar hatte er einen Nerv getroffen. »Den ›Sommernachtstraum‹ wollte ich immer schon einmal sehen.«
Was Thomas Roder darauf erwiderte, bekam Greta nicht mit, denn die Unterhaltung der beiden wurde plötzlich merklich leiser. Da half nicht einmal mehr die hervorragende Akustik des Gewölbes. Was hat Arjen im Garten noch einmal gesagt? , versuchte Greta sich zu erinnern. Wenn sie achtsam sei, würde sie schon herausfinden, warum Anette sich ihrem eigenen Leben zuwenden sollte. War es möglich, dass ihr Großvater auf den Herrn Pastor angespielt hatte? Plötzlich sah Greta den Mann, der neben ihrer Mutter saß, aus einem gänzlich anderen Blickwinkel. Waren diese Hände etwa so viel in Bewegung, weil Thomas Roder nervös war? Und überhaupt: War dieser Mann denn alleinstehend, oder betörte er möglicherweise die halbe Meresunder Frauenwelt mit seinen Klavierspielerhänden? Mit Mühe rief Greta sich zur Räson.
Als Anette nach der Vorspeise in Richtung Toiletten verschwand, folgte Greta ihr. Während sie vor dem Waschtisch wartete, musste sie sich eingestehen, dass Wencke an ih rem Gesicht wahre Wunder gewirkt hatte. Es war schon erstaunlich, was man mit ein wenig Farbe alles anstellen konnte, vor allem weil Greta als nordischer Typ stets blass wirkte. Ihre Tante Beeke war nie müde
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