Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
war Arjen merklich stiller geworden, nachdem er zuvor noch einmal genüsslich ihre bisherigen Höhepunkte aufgezählt hatte. Greta verspürte eine gewisse Unruhe – denn die Halbinsel Beekensiel war nun nicht mehr als eine Autostunde entfernt.
»Auf welchen alten Spuren möchtest du durch Aurich wandeln?«, fragte Greta, während sie das Coupé an stattlichen Villen vorbeilenkte. Allmählich gewöhnte sie sich ans Autofahren, auch wenn sie vermutlich nie ein Gefühl fürs Bremsen oder für den richtigen Abstand zum Vordermann gewinnen würde. »Meinetwegen können wir die typischen Sehenswürdigkeiten ausfallen lassen und uns stattdessen dein altes Gymnasium anschauen. Das habe ich doch richtig in Erinnerung behalten, dass du zum Unterricht aufs Festland musstest?«
Arjen warf ihr einen überraschten Blick zu. »Woher weißt du das?«
»Du hast es in deiner Erzählung darüber erwähnt, wie du diesen Jungen namens Ruben kennengelernt hast.«
»Stimmt … Du bist eine aufmerksame Zuhörerin. Ich werde besser aufpassen müssen, was ich dir gegenüber preis gebe.« Arjen schmunzelte, bis seine Augen hinter dem Saum seiner zahlreichen Lachfalten zu verschwinden drohten. »Auf Beekensiel gab es nur ein klappriges Schulgebäude, in dem die Grund- und Volksschule untergebracht waren. Wer eine höhere Schule besuchen wollte, musste nach Aurich. Ich ging aufs Ulricianum. Das gibt es noch heute, wenn ich mich nicht irre.«
Greta nickte zustimmend. Am letzten Abend hatte sie ein Internetcafé besucht und im Netz herumgestöbert, während sie auf der Karte Kreuzchen an interessanten Stellen setzte. Mittlerweile machte ihre Karte einen recht mitgenommenen Eindruck, doch Arjen weigerte sich, ein Navi anzuschaffen. Für Greta war das kein Problem, sie hatte nichts dagegen, am Straßenrand zu halten, um mit ihrem Großvater über die Route zu diskutieren oder Passanten und Radfahrer nach dem Weg zu fragen. Sie hatte damit gerechnet, dass Arjen gewiss den Ort wiedersehen wollte, an dem er so viele Jahre verbracht hatte … Auch wenn es, seiner verhaltenen Reaktion nach, nicht unbedingt die besten gewesen waren.
»Ach, na ja, das Ulricianum …« Sein ausweichender Ton bestätigte ihre Vermutung. »Der Schulbesuch während der Nazi-Zeit war nicht gerade ein Zuckerschlecken, besonders nicht für den Sohn eines Pastors, der Politik generell als eine dumme Mode abtat.« Anstatt sich wie sonst aufmerksam umzuschauen, betrachtete Arjen seine Hände mit den hervortretenden Adern und Knöcheln. »Außerdem war es ein elender Aufwand, zum Gymnasium zu gelangen: Jeden Tag nahm Jörg Claußen, der in einer Auricher Anwaltskanzlei arbeitete, mich und zwei andere Schüler in seinem Wagen mit. Am Anfang war es noch spannend, allein die Autofahrt, denn auf Beekensiel waren ansonsten nur Pferdegespanne und gelegentlich mal ein Lieferwagen unterwegs. Als Jörg Claußen später dann zum Kriegsdienst eingezogen wurde, wohnte ich unter der Woche bei einer alten Dame zur Untermiete in der Stadt und litt unsäglich unter Heimweh, während um mich herum die ursprüngliche Kriegseuphorie in Angst und später in Panik umschlug. Dabei hatte ich es in Aurich noch verhältnismäßig gut, die Stadt erlebte nur drei Bombenangriffe, und bei dem schwersten Angriff im Herbst 1943 war ich auf Beekensiel und zum ersten Mal wirklich glücklich darüber, dass das Haus meines Vaters am gefühlten Ende der Welt stand. Das war kurz bevor ich den Krieg persönlich kennenlernen sollte.«
Obwohl durch den Berufsverkehr einiges auf den Straßen los war und Greta sich aufs Fahren konzentrieren musste, versuchte sie sich Aurich als eine vom Krieg heimgesuchte Stadt vorzustellen, doch es fiel ihr schwer. Vermutlich hing es mit Arjens widerstrebendem Erzählstil zusammen. »Du bist wie die meisten Sechzehnjährigen gegen Kriegsende als Flakhelfer eingezogen worden, richtig? Kindersoldaten, die sich um Geschütze und Gerätschaft kümmerten und die ausblutende Wehrmacht unterstützen sollten.«
Arjen brummte zustimmend. »Eine Schande, die sich auch nicht durch die paar Stunden Unterricht aufheben ließ. Ich landete bei der Marine, lag ja auf der Hand. Als der verkopfte, unpolitische Typ, der ich damals war, wurde ich für Meldegänge eingesetzt, während scheinbar rund um die Uhr Luftalarm herrschte. Die meiste Zeit über war ich so vollgepumpt mit Adrenalin, dass ich meine Furcht kaum bemerkte. Im Frühjahr war meine Kriegskarriere dann auch schon vorbei – Gott sei
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