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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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Küste, führten seine Vorschläge in den ersten Tagen stetig weiter nach Osten. Von Heiligenhafen aus ging es in die alte Hansestadt Lübeck und schließlich bis nach Rostock, wo er sich für die bunten Fassaden der Innenstadt begeisterte und erstaunt über die einsam aus der Landschaft hervorstechenden Hochhäuser auf dem Weg nach Warnemünde zeigte. Trotz seiner Kurzatmigkeit legte er eine erstaunliche Energie und ein noch größeres Interesse an den Tag. Egal ob sie mit dem Auto unterwegs waren und er vom Beifahrersitz aus die Landschaft studierte oder ob sie auf eigene Faust einen Ort erforschten, er war vollauf dabei. Den Preis dafür zahlte er am frühen Abend, wenn Greta gern mit ihm in einem Lokal gegessen und geplaudert hätte. Dann war Arjen oftmals so erschöpft, dass er lediglich noch die Kraft aufbrachte, sein Zimmer zu beziehen, und Greta blieb mit ihren Gedanken allein.
    Die ersten Abende der Reise nutzte sie, um niederzuschreiben, was ihr Großvater über den Beginn seines Sommers 1939 erzählt hatte. Arjen hatte seine Dünenwanderung und die Bekanntschaft, die er dabei gemacht hatte, so lebendig beschrieben, dass es ein Leichtes war, sie aufzuschreiben. Um in der übrigen Zeit nicht in Grübeleien über Erik zu versinken, ging Greta deshalb ins Kino, las Zeitungen in Cafés zwischen urlaubenden Rentnern und Familien mit Kleinkindern oder tüftelte, auf ihrem Bett sitzend, das nächste Reiseziel aus.
    Bei einem Strandspaziergang in Warnemünde erahnte Greta zum ersten Mal den anbrechenden Herbst. Die Luft schmeckte salziger als sonst und trug einen herben Geschmack nach Tang, die Sonne verbarg sich hinter Wolkentürmen, und die Farbe des Seegrases begann zu verblassen. Mit klammen Fingern griff sie nach der umgehängten Kamera, die sie in einem Fachgeschäft in Rostock gekauft hatte, wo ihr der blauhaarige Verkäufer begeistert mitgeteilt hatte, dass anspruchsvolle Kameras nach der ganzen Handyfotografiererei wieder schwer im Kommen seien. Sie machte eine Aufnahme vom Hotel Neptun mit seinen achtzehn Stockwerken inmitten der wunderschön geschwungenen Bucht, ein Relikt aus DDR -Zeiten, als sich die Parteiobersten eine feine Zeit an der Küste gemacht hatten.
    »Sieht dieses Kuriosum mitten an so einem prächtigen Strand nicht wie ein Alien aus?«, fragte sie ihren Großvater, der einige Schritte von ihr entfernt aufs Meer blickte. »Wie kommt man denn bitte schön darauf, solche Scheußlichkeiten zu bauen und die alten Villen in den Dünen verrotten zu lassen?«
    Zu ihrer Enttäuschung nickte Arjen lediglich, er war schon seit dem Morgen ungewöhnlich schweigsam.
    Vielleicht setzt ihm der Wetterumschwung zu , mutmaßte Greta. Oder er kann das eigentliche Ziel unserer Reise nicht mehr verdrängen und braucht noch einen Anstupser, um es sich einzugestehen . »Es ist Herbst, der Sommer hat sich endgültig verabschiedet. Noch ein paar Tage, dann bricht der Oktober an. Können wir jetzt an die Nordsee fahren?«
    »Ja«, sagte Arjen, während er aufs dunkle Meer hinausblickte. »Jetzt können wir gen Nordsee fahren.«
    Als sie die Ostsee hinter sich ließen, war ihre Reise bereits ein voller Erfolg: die Städte mit ihren hochherrschaftlichen Backsteinbauten, die von den Pfeffersäcken zu Hansezeiten errichten worden waren, die Hochhauskluften aus DDR -Zeiten und die schiefen Reetdachkaten auf dem Land … Und an ihrer Seite stets das Meer, das mit jedem Tag grauer wurde und seine Wellen gegen Dünen, Hafenmauern und Sandbuchten branden ließ – alles war auf seine Weise beeindruckend. Selbst wenn sie schon jetzt zurück nach Meresund gefahren wären, würden diese Tage mit Arjen mit die schönsten in Gretas Leben sein. Vielleicht war sie nicht sonderlich gut darin, sich einen passenden Lebensgefährten zu suchen, aber die Männer in ihrer Familie waren echte Treffer! Es hieß ja, man könne im Leben nicht alles haben – und so gesehen, hatte sie sehr viel. Auch wenn die Telefonate mit Anette bislang eine Herausforderung an Ausweich- und Verschleierungsgeschick darstellten (sie riefen sie erst an, wenn sie einen Ort verließen, und behaupteten stets, noch nicht zu wissen, wohin der Weg sie bringen würde), so war Greta zuversichtlich, dass sie sich auch mit der weiblichen Hälfte ihrer Familie noch aussöhnen würde.
    Nach einer zähen Fahrt über Landstraßen erreichten sie schließlich Aurich, die alte Residenzstadt der ostfriesischen Fürsten. Schon als ein Schild sie in Niedersachsen willkommen hieß,

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