Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
hielt er die Augen geschlossen und hatte lediglich mit einem Murren reagiert, als Greta die Insel angekündigt hatte. Während der Fahrt waren ihr Zweifel gekommen, ob dieser Abstecher in seine alte Heimat ihm wirklich guttun würde, nachdem er schon den ganzen Tag über einen bekümmerten Eindruck gemacht hatte. Nun, da Beekensiel vor ihr lag, fühlte sie sich jedoch bestätigt: Dies war keine weitere Etappe ihrer Rundreise, die ein paar interessante Ansichten bot, während man im Hinterkopf bereits bei der Weiterreise war. Sie waren endlich am Ziel.
Vielleicht war ihr erster Eindruck von Beekensiel deswegen so stark, weil Greta auf dieser Insel das Geheimnis ihres Großvaters verborgen glaubte. Während sie in die Ferne blickte, flüsterten ihr die Sinne unentwegt zu, wie sehr sich die Nordsee doch von der Ostsee unterschied. Der Wind war hier deutlich schroffer und peitschte ihr ins Gesicht. Sogar der Himmel kam ihr weiter vor, voller hoch aufgetürmter Wolken, gegen die das Meer sich dunkel abzeichnete. Wie ein Kleinod schmiegte sich die Insel ins Blau, die zu erahnende Hafenanlage in der Einbuchtung ein dunkler Pinselstrich, die umliegenden Häuser nicht mehr als ein paar bunte Tupfen und ansonsten Sand und Grün. Eine letzte Bastion, bevor Sturmwolken und Meeresfluten am Horizont miteinander verschmolzen. Dorthin wollte sie mit ihrem Großvater gehen und die Insel aus den Augen des Jungen, der Arjen einst gewesen war, sehen. Gewiss würde er die Sache geruhsam angehen müssen, und sie würde ihn bei seiner Eingewöhnung unterstützen, aber dieses Ziel fühlte sich mehr als richtig an.
Obwohl gerade Hochwasser herrschte und ein kräftiger Wind ging, war die Schranke zur Verbindungsstraße geöffnet. So leise wie möglich setzte sich Greta hinters Lenkrad und startete den Motor, dann fuhr sie auf das befestigte Verbindungsstück, das in die Höhe aufgestockt worden war, um den Verkehr von den Gezeiten so unabhängig wie möglich zu machen. Vom Wagen aus gesehen reichte die Brandung gefährlich nahe an die Straße heran, das dazwischenliegende Stück Deich wirkte mit einem Mal nicht sonderlich sicher. Fast rechnete Greta damit, dass eine hohe Welle den Wall aus Gesteinsbrocken überwand und den Asphalt unter Wasser setzte. Vom Festland aus hatte die Verbindungsstraße breit und gut gesichert gewirkt, aber es war tatsächlich ausgesprochen unheimlich, mitten durchs Meer zu fahren. In Greta meldete sich eine tief verwurzelte Angst, sie könnten hinfortgespült werden.
»Der Flut vor Beekensiel wohnte schon immer etwas Herrschaftliches inne, sie erinnert einen an die Macht, die das Meer besitzt. Mit jedem weiteren Herbsttag wird die Strömung an Kraft zunehmen, hochgepeitscht von Stürmen, bis es schließlich kein Durchkommen mehr gibt.« Offensichtlich schlief Arjen doch nicht, sondern sah unter schweren Lidern zum Fenster hinaus. Er blickte auf den Wellentanz und nicht nach Beekensiel.
»Tut mir leid, dass ich dich nicht rechtzeitig geweckt habe, als die Insel in Sicht kam. Es wäre sicherlich schön für dich gewesen, sie vom Festland aus zu begrüßen, aber du machtest so einen erschlagenen Eindruck, dass ich dich nicht stören wollte.«
Arjen tätschelte ihr die Schulter. »Erschlagen eher weniger, sondern mehr von der Frage in Anspruch genommen, was mich wohl erwartet – schließlich kehrt man nicht oft zu dem fast vergessenen Hort seiner Kindheit zurück. Ich habe Beekensiel seit sechsundsechzig Jahren nicht mehr betreten. Als ich nach dem Tod meines Vaters nach Heidelberg aufgebrochen bin, habe ich nicht einmal zurückgeblickt. Ich wollte mich ganz und gar auf die Zukunft einlassen und keinen Gedanken mehr an dieses angeschnittene Stück Land verschwenden. Beekensiel und ich – wir sind nicht im Guten auseinandergegangen … Nun bin ich hier und weiß plötzlich nicht mehr, was ich hier eigentlich will. Um darauf eine Antwort zu finden, werde ich mich allerdings wohl oder übel darauf einlassen müssen, richtig?«
Zu Gretas Erleichterung blitzten Arjens Augen auf, während er sprach. Von der Müdigkeit, die seine Bewegungen oftmals bestimmten, war nichts mehr zu bemerken, als er sich aufsetzte und sein Hemd unterm Gurt glattstrich.
Abschätzig blickte Arjen zur Insel, von der sich nun immer mehr Details abzeichneten. »Als ich ein kleiner Junge war, musste man noch auf die Ebbe warten, um aufs Festland zu gelangen. Der alte Fedder Lehnt hat sich ein wenig Geld dazuverdient, indem er einige Male am
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