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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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Dank. Nachdem ich fast an einer Lungenentzündung verreckt war, kam ich nur zögerlich wieder auf die Beine, noch ein Jahr später pfiffen meine Lungen wie ein undichter Wasserkessel, und ich klappte zusammen, wenn ich nur zu rasch aufstand. Aber ich darf mich nicht beschweren, ich hatte noch Glück im Unglück. Von den anderen Beekensieler Jungen, die ein oder zwei Jahre älter waren als ich, kamen nur wenige aus dem Krieg zurück, und diese wenigen trugen ganz andere Schäden davon. Dieses allgegenwärtige Elend war sicherlich einer der Gründe, warum ich später Medizin studiert habe.«
    Es war ein distanzierter, absichtlich kurz gehaltener Bericht. Keine Geschichte wie sonst, die einem das Gefühl gab, dabei zu sein, sondern nur ein Wiedergeben von Fakten – und selbst das geschah bloß aus einer gewissen Pflicht heraus. Als Arjen von Ruben erzählt hatte, war er in diese Zeit zurückgekehrt und hatte sie dadurch für Greta lebendig gemacht. Aurich verlockte ihn nicht dazu.
    »Da vorne muss ich nur noch einmal abbiegen, dann sind wir beim Ulricianum«, sprach Greta in die sich ausbreitende Stille hinein.
    »Halt bitte an. Jetzt gleich.« Arjens Stimme war nicht mehr als ein Raunen.
    »Wie du meinst.«
    Greta lenkte den Wagen in eine Parklücke, in der sie nach zweimaligem Korrigieren stand. Ihr Großvater sah mitgenommen aus, sein Gesicht grau und die Schultern bebten. Für einen Moment fragte sie sich, ob er nicht bloß aufgewühlt war, sondern ganz reale Schmerzen verspürte. Während der Fahrt hatte er sich allerdings weder über Kopfschmerzen noch über sonst ein Unwohlsein beklagt, er hatte geradezu einen munteren Eindruck gemacht. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst erschöpft«, tastete sie sich vor.
    »Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Es ist nur … Anstelle der Schule würde ich mir lieber etwas Erbauliches anschauen, das Auricher Schloss zum Beispiel.« Arjens Blick war auf seine Hände gerichtet, als müsse er sich davon überzeugen, dass sie nicht zitterten. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. »Das Schloss würde dir gefallen, mit seiner weißen Fassade und den Erkern und Türmchen im Tudorstil. Und wenn du Aurich unbedingt besser kennenlernen möchtest, gibt es ohne Frage noch ein paar andere Bauten, die mehr Geschichte zu bieten haben als ein altes Gymnasium, das dein Großvater ohne große Freude besucht hat. Ich war ein Kind, das am Montagmorgen schon vom Freitagnachmittag träumte. In Beekensiel habe ich gelebt, in Aurich bin ich nur zur Schule gegangen.«
    Zu gern hätte Greta weiter nachgehakt, in der Hoffnung, Arjen würde doch noch erzählen, welche Erinne rungen seine Hände zum Zittern brachten. Doch sie hatte Angst, dass er sich verschließen würde, wenn sie ihn jetzt bedrängte, und dass sie sich dann seinen alten Lebenspfaden nicht weiter annähern würde. Doch genau darauf kam es an! Sie wollte mit ihrem Großvater die Halbinsel Beekensiel besuchen, denn inzwischen war sie davon überzeugt, dass dort entscheidende Dinge in seinem Leben geschehen waren. Von diesen Ereignissen wollte sie hören, sie wollte dabei sein, wenn er sich seiner Vergangenheit stellte. Sie glaubte nicht daran, dass das hier in Aurich passieren würde. Alles, was sie brauchte, war noch ein wenig Geduld, dann würde sie das Notizbuch Seite um Seite füllen können.
    Greta schmiss den Blinker an und wendete auf der Straße. Wenn sie sich beeilten, konnten sie Beekensiel noch am selben Tag erreichen …

9
    Im diesigen Licht des Nachmittags tauchte Beekensiel hinterm begrünten Deich auf: eine sandfarbene Erhebung im Meer, mit dem Kirchturm als Wahrzeichen, den man trotz der Entfernung erkennen konnte. Unruhige Wellen tanzten zwischen Insel und Festland, nur gebrochen von einem schmalen, gut drei Kilometer langen Streifen Land, der Beekensiel zu einer Halbinsel machte. Während die anderen ostfriesischen Inseln von der Küste abgetrennt waren, hatte die Strömung an dieser Stelle stetig Sand angelagert, bis eine natürliche Verbindung entstanden war.
    Greta stieg aus dem Wagen und atmete tief ein, obwohl es ihr albern vorkam – als wäre die Luft hier besser als anderswo an der Küste. Und doch glaubte sie, eine gewisse Erwartungsfreude auf der Zunge zu schmecken. Der Wind strich rau und zärtlich zugleich durch ihr Haar, und das Rufen der Möwen klang wie ein Willkommen.
    Während sie den Eindruck auf sich wirken ließ, blieb Arjen im Wagen sitzen. Er schien eingenickt zu sein. Zumindest

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