Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
kleinen rechteckigen Fenstern unter der Regenrinne. Die roten Ziegel des Krüppelwalmdachs lagen teils schief auf, als habe der Wind kräftig durch sie hindurchgepustet, und auch an dem Schmiedeschild, auf dem der Name des Hotels prangte, war die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen: Das Messing war angelaufen. Die Vorderseite des Gebäudes zeigte zum Marktplatz, der auf der gegenüberliegenden Seite vom Kai begrenzt wurde. Der Hafen war nur einen Katzensprung weit entfernt, wie Greta begeistert feststellte, obwohl um diese Jahreszeit nur noch vereinzelte Segelschiffe und Kutter vor Anker lagen.
Beim Öffnen der friesengrünen Holztür des Sturmwind ertönte ein feines Glöckchen, und schon eine Sekunde später erschien eine füllige Frau an der Rezeption. Wegen ihrer glatten, runden Wangen und ihrem rötlich gefärbten Haar war ihr genaues Alter schwer zu schätzen, aber Greta tippte auf jung gebliebene sechzig.
»Moin«, begrüßte sie die Frau überschwänglich. »Sie müssen die Rosenbooms sein! Ich hatte schon Sorge, der Wind würde die Flut vorantreiben und Sie würden es heute nicht mehr rechtzeitig über die Verbindungsstraße schaffen. Ab Oktober ist die Anreise zu uns auf die Insel nicht immer ganz unkompliziert … Aber was rede ich, nun sind Sie ja da und sehen frisch und munter aus. Eine Tasse Tee zu Begrüßung? Habe ich gerade frisch aufgesetzt. Nein? Dann vielleicht später. Teetrinken ist ein klassisches Begrüßungsritual bei uns im Norden, aber das wissen Sie bestimmt. Rosenboom … Der Name kommt doch aus unserem Landstrich, nicht wahr? Wir hatten sogar mal einen Pastor Rosenboom, allerdings von außerhalb. Oh, Ihr Gepäck! Das hätten Sie ruhig im Wagen lassen können, das hätten wir gern für Sie hereingeholt. Aber kommen Sie, kommen Sie. Der Wind ist heute ja ordentlich frisch, da muss man sich nach dem Sommer erst wieder dran gewöhnen.« Während sie weiterplapperte, machte sie Anstalten, Arjen den Koffer aus der Hand zu nehmen. Die schmale Vorhalle des Hotels machte es den ausladenden Hüften der Wirtin jedoch unmöglich, an ihm vorbeizukommen – und Arjen wollte sein Gepäck selbstredend nicht von einer Dame tragen lassen.
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich bin nicht halb so gebrechlich, wie ich anscheinend aussehe. Lassen Sie mich das Köfferchen mal ruhig allein tragen, Frau …?«
»Frau Hayden, Gertrud Hayden, von jedermann Trude genannt – natürlich nur für die, die das auch wünschen.« Trude Hayden lächelte einnehmend, wobei sich ihre Apfelbacken rot färbten. In ihrer fliederfarbenen Strickjacke, die nach anspruchsvoller Handarbeit aussah, passte sie auf eine altmodische Art zur Rezeption mit ihren moosgrünen Wänden, den dicken Teppichen auf den Holzdielen und der Theke, deren Oberfläche mit friesischen Fliesen verziert war. Jedes Detail wies Patina auf und wirkte verschlissen, was das liebevolle Arrangement jedoch noch charmanter wirken ließ. »Nun aber hereinspaziert. Wir haben zwei wunderschöne Zimmer für Sie vorbereitet, eines sogar mit Aussicht auf den Hafen. Beim anderen ist die Aussicht natürlich auch nicht zu verachten, das Zimmer liegt nämlich unterm Dach, sodass man Himmel und noch mehr Himmel sieht. Allerdings muss man einige Treppenstufen steigen, aber dafür hat das Zimmer eine emaillierte Badewanne aus den guten alten Tagen zu bieten. Höchst gemütlich! Wenn man Kerzen ansteckt und einen ordentlichen Roman zur Hand hat, gibt es keinen besseren Ort auf dieser Welt, das verspreche ich Ihnen.« Trude stieß Greta verschwörerisch von der Seite an, die sich schon allein wegen der Treppen sofort für dieses Zimmer entschieden hatte. Arjen mit seiner täglich zunehmenden Kurzatmigkeit wäre auf der unteren Etage zweifellos besser aufgehoben.
»Klingt hervorragend, ich kann mir im Moment nichts Angenehmeres vorstellen, als in einer Badewanne zu entspannen. Die Fahrt hierher war der reinste Stress.«
Bei der Erwähnung von »Stress« blickte Trude sogleich drein, als trage sie persönlich die Verantwortung dafür. »Ja, an manchen Tagen macht Beekensiel es einem nicht leicht. Es wird ja immer wieder einmal diskutiert, die Verbindungsstraße zu erweitern und vor allem höher zu legen. Aber für unser armes Wattenmeer wäre das gar nicht segensreich. Und das Watt, das ist uns Beekensielern heilig, müssen Sie wissen.«
Greta winkte ab, während Arjen sich daranmachte, die Anmeldung auszufüllen. »Der Weg hierher war zwar ein Abenteuer, allerdings mit
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