Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
wenn sie hinter einem Sanddorngestrüpp in Deckung gingen. Zwar ahnte Arjen, dass mehr dahintersteckte, aber er war viel zu glücklich, Ruben für sich zu haben, als dass er die Stimmung mit Fragen gefährdet hätte. Manchmal kam es Arjen so vor, als gehöre Beekensiel ihnen allein, ein ganze Insel nur für zwei Jungen und ihre Freiheit. So erging es ihm besonders dann, wenn Ruben zu erzählen anfing.
Seine aufregenden Geschichten handelten oft von Männern, die sich nachts Duelle an Klippenrändern lieferten, von Verfolgungsjagden durch glitzernde Weltstädte und von heimlichen Treffen in Kanalisationen, bei denen rätselhafte Artefakte ihren Besitzer wechselten. Es war eine Welt voller Spione, Meisterdiebe und Helden, wobei nie deutlich wurde, wer in Wirklichkeit der Gauner und wer der Held war. Für gewöhnlich hörte Arjen mit offenem Mund zu, denn sein Freund wusste lebhaft und spannend zu erzählen. Doch heute ärgerten ihn diese Geschichten, die stets so klangen, als wäre Ruben leibhaftig dabei gewesen, als stiller Zeuge dieser Abenteuer. Als würde er ein ande res Leben führen, wenn er nicht gerade auf Beekensiel herumstromerte, ausgehungert und miserabel eingekleidet … Ein Leben, in dem schnittige Herren mit Revolvern unterm Jackett und Damen in Abendgarderobe die Hauptrolle spielten und das von Villen mit Geheimkammern und Verschwörungen in den höheren Kreisen nur so strotzte.
Heute handelte Rubens Geschichte von einem Trupp schwarz gekleideter Männer, die in ein Stadthaus einbrachen, um den Herrn des Hauses zu entführen. Doch sie hatten nicht mit seinem Sohn gerechnet, der seinen Vater rechtzeitig warnte. Nach einem wilden Schusswechsel flohen sie bei strömendem Regen über das Dach, während die Häscher …
»Lass mich raten, der Sohn heißt Ruben, richtig?«, unterbrach Arjen seinen Freund. Im Gegensatz zu sonst verärgerte ihn die Geschichte, und das war allein Rubens Schuld. »Du liest eindeutig zu viele billige Agentenromane, die haben dir offenbar den Verstand benebelt. Warum sonst machst du aus allem unentwegt so ein riesiges Geheimnis? Jetzt auch schon wieder: Ich soll mich für eine geschlagene Stunde unter einen Baum hocken, weil du irgendetwas Mysteriöses zu erledigen hast. Und zwar mit unseren Essensresten.«
So leicht ließ Ruben sich nicht aus der Ruhe bringen. »Willst du deine verbrannten Eier zurück? Ich dachte, dafür hast du keine Verwendung?«
»Habe ich auch nicht. Ich will nur wissen, was du damit vorhast. Das ist schließlich mein gutes Recht.«
»Hätte nicht gedacht, dass das Verschenken von Angekokeltem Rechte mit sich bringt.« Noch immer lag ein Lächeln ins Rubens Mundwinkeln, aber sein Ton war deutlich kühler geworden. Er mochte es gar nicht, in die Ecke gedrängt zu werden.
Arjen gab vor, den Flug einer Möwe zu verfolgen, wäh rend er nach einer passenden Entgegnung suchte. Er wollte … Er musste seinem Ärger Luft machen, aber auf keinen Fall wollte er Ruben so weit verärgern, dass der sich umdrehte und ging. Denn in so einem Fall hätte Arjen keine Ahnung gehabt, wie er ihn wiederfinden sollte. Es war Ruben, der zu ihm kam, der sein Zuhause und die wenigen Plätze kannte, an denen er sich gern aufhielt, während er nicht einmal den Nachnamen des Freundes kannte. Dafür wusste er, dass Ruben den Möwenschrei nachahmen konnte und beim Flunkern nicht rot wurde, dass er die Farbe der Sanddornbeeren liebte und sich ganz und gar in ihren gemeinsamen Spielen verlieren konnte. Dagegen war es ihm peinlich, wenn man seine mageren Beine mit Streichhölzern verglich, was Arjen bei jeder Gelegenheit tat. Die Bindung zwischen ihnen fühlte sich stark und zerbrechlich zugleich an.
»Ich bin dein Freund, du kannst mir vertrauen«, sagte Arjen aus tiefster Überzeugung. Während er noch sprach, legte sich bereits ein Schatten über Rubens Augen.
»Ich kenne dich erst seit drei Wochen«, erklärte er. »Versteh mich nicht falsch, du bist ein guter Kerl, aber Vertrauen muss man sich verdienen. Du hältst meine Geschich ten für Räuberpistolen, und ein bisschen sind sie das auch. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Welt dort draußen tatsächlich gefährlich ist, auch wenn man das auf einer verschnarchten Insel wie Beekensiel nicht mitbekommt. Deshalb bin ich ja auch hier: In diesem Niemandsland kann man hervorragend unterschlüpfen.«
In Arjens Brust setzte ein tiefes Pochen ein, das seinen gesamten Körper erbeben ließ. Obwohl er nicht richtig verstand,
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