Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
nicht immer geklappt hat, wenn ich mich nicht täusche. Aber seitdem dieser Hitzkopf dich über seine Fischkiste hinweg angeraunzt hat, wirkst du wie ausgewechselt. Sieh es nicht unbedingt als Ratschlag an, aber das beste Mittel gegen Liebeskummer ist nun einmal eine neue Liebe. Seit unserer Ankunft in Beekensiel hast du nicht einen Gedanken an Erik verschwendet, richtig?«
Ertappt nahm Greta einen viel zu tiefen Schluck von ihrem Bier, wobei ihr der folgende Hustenanfall ganz recht kam. Ihr Großvater war wirklich ein erstaunlich guter Beobachter. Das kam vermutlich von seiner Arbeit als Landarzt, bei der er genügend schweigsamen Bauersleuten gegenübergesessen hatte und selbst hatte herausfinden müssen, wo denn nun das Problem lag. »Themenwechsel, bitte«, war deshalb auch schon alles, was ihr dazu einfiel.
»Einverstanden.« Arjen sparte sich zu ihrer Erleichterung ein schelmisches Lächeln. »Nach dem Essen reden wir nur noch über Themen, die du aussuchst.«
»Ich wüsste da auch schon eins.« Greta sah ihre Chance gekommen, endlich wieder Futter für ihr Notizbuch zu sammeln. »Ich würde liebend gern mehr über deine Kindheit auf Beekensiel hören. Das letzte Mal hast du mir davon erzählt, wie du diesem geheimnisvollen Ruben in der verlassenen Fischerkate begegnet bist. Hast du den Jungen denn je wiedergesehen?«
Es dauerte eine Weile, bevor Arjen antwortete. Noch während Greta ihre Frage gestellt hatte, verschleierte sich sein Ausdruck, als würde er tief in seinem Innersten suchen, um jene längst vergangene Zeit wiederzufinden. »Ruben«, sagte er schließlich, mit einer Vorsicht, als könnte der Name zerbrechen, wenn er zu laut ausgesprochen würde. »Ja, Ruben habe ich wiedergesehen, jeden Sommertag, an dem mein Vater keine andere Aufgabe für mich hatte. Und das hatte Thaisen selten, er vergaß mich einfach, wenn er nicht zufällig über mich stolperte. Ich werde dir von diesem Sommer erzählen.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
Arjen nahm Greta ihre Begeisterung ab, denn er nickte zustimmend. »Dann reden wir also über Ruben und den Sommer meines Lebens. Aber erst beim Kaffee, jetzt muss ich mich noch stärken. Der Nordseeluft ist gelungen, was sonst nichts geschafft hat: meinen Hunger wiederzubeleben.«
11
SOMMER 1939
Arjens Schlafkammer in der Reetdachkate lag noch im Zwielicht, als er durch hartnäckiges Klopfen geweckt wurde. Wilder Zorn flammte in ihm auf, weil er aus einem Traum hochschreckte, den er gern zu Ende geträumt hätte. Im nächsten Moment schon verflüchtigten sich die nächtlichen Bilder und mit ihnen der Eindruck, wütend wegen dieser Unterbrechung zu sein. Zurück blieb nur eine wattige Leere hinter seiner Stirn. Schwerfällig richtete Arjen sich auf und stellte fest, dass das Klopfen nicht wie erwartet von der Tür, sondern vom Fenster kam. So rasch es seine müden Glieder zuließen, kletterte er aus dem Bett und zog die Vorhänge beiseite. Draußen stand Ruben und klopfte demonstrativ ein Stück höher gegen das Glas, als würde er gegen Arjens Stirn hämmern.
»Tock, tock, irgendwer zuhause? Sag bloß, du bist endlich wach, du Schlafmütze.«
»Noch nicht richtig«, gestand Arjen ein und blickte in die ungeduldig funkelnden Augen seines Freundes.
Für Ruben reagierte er ständig zu langsam, dachte zu lange nach und war ohnehin so verträumt, wie es nur ein behütetes Kind sein konnte. Auch jetzt war Arjen be wusst, dass er schon längst hätte handeln müssen, aber es ging nicht. Ihm war gerade eine Eingebung gekommen. An den letzten Morgen hatte er den diesigen Himmel betrachtet und sich gefragt, woran ihn diese Farbe bloß erinnerte. Dieses frühe Blau, von dem man ahnte, dass es sich in einen strahlenden Himmel verwandeln würde, sobald die Sonne aufging und der gräuliche Schleier sich hob. Genau so sah Rubens blaugraue Iris aus – und sie war typisch für ihn, als würde er verbergen, dass in seinem Inneren der Sommer wohnte. Das war Ruben – stets geheimnisvoll. Sogar Arjen gegenüber, obwohl sie seit ihrer Begegnung in den Dünen jede freie Minute miteinander verbracht hatten.
»Hühnerkacke, jetzt lass mich endlich rein, Rosenboom! Ich frier mir sonst noch die Zehen ab.«
Aufgescheucht von dem Gebrüll hielt Arjen seinen Zeigefinger vor die Lippen. »Leise, sonst weckst du noch meinen Vater.«
Ruben winkte ab. »Der ist bereits auf seinem Drahtesel in Richtung Dorf gefahren. Ich habe ihn gesehen, als ich mich gerade zur Straße durchgeschlagen habe.
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