Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
ich es abarbeiten kann … Aber ich bin nicht auf ihn angewiesen, ich kann nämlich allein für mich sorgen«, flüsterte er. »Und wenn ich schon dabei bin, dann sorge ich für Pirat gleich mit. Peer vergisst den alten Burschen nämlich ganz gern einmal, so ein greiser Köter brauche nicht viel zwischen die Zähne, behauptet er immer. Aber wenn ich ein Brot oder sogar eine Wurst mitbringe, hat sich Pirat noch nie beschwert.«
Unwillkürlich dachte Arjen an eine Unterhaltung zwischen seinem Vater und Dörchen vor ein paar Tagen, bei der Thaisen nachgefragt hatte, ob die Bestückung des Vorratsschrankes stimme. Ihm wäre zu Ohren gekommen, dass in einigen Häusern Lebensmittel verschwunden waren. Nicht viel, aber immerhin. Damals hatte Arjen sich nicht das Geringste dabei gedacht. Die Angelegenheiten der Erwachsenen kümmerten ihn nicht sonderlich, aber jetzt sah er die Unterhaltung aus einem anderen Blickwinkel. Er würde künftig Essen für Ruben und Pirat abzweigen müssen, damit die Leute nicht Jagd auf den geheimnisvollen Dieb machten. Dabei würde es leichter sein, Dörchen seinen plötzlichen Appetit zu erklären, als Ruben dazu zu bringen, seine Gaben auch anzunehmen.
Offenbar entging Ruben dieses fieberhafte Nachdenken nicht. »Ich habe keine Ahnung, was dir gerade durch den Kopf geht, aber lass mich eine Sache klarstellen: Egal wie ich im Augenblick auf dich wirke – so bin ich nicht. Ich bin kein Streuner und auch kein nichtsnutziger Dieb oder gar Schnorrer. Ich bin mit einer Aufgabe nach Beekensiel gekommen, und mein zerlumptes Auftreten ist nur Tarnung.«
Arjen nickte zustimmend und hoffte, dadurch zu vermeiden, dass sein Freund sich noch tiefer in ein Lügenmärchen verstrickte. Es war schwer zu sagen, für wen diese Situation unerträglicher war: für Ruben, der nicht dazu stehen konnte, wer er war, oder für Arjen, der es nicht ertrug, seinen Freund erniedrigt zu sehen.
»Mein Vater ist ein bedeutender Historiker und Weltreisender«, erklärte Ruben. Vor Anspannung war ihm sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen, und unter seinen Wangenknochen zeichneten sich Einkerbungen ab, weil er seine Kiefer aufeinanderpresste. »Mein Vater hat eine bedeutende Entdeckung gemacht, ein Relikt von unermess lichem Wert. Die verdammten Nazischergen haben ihn deshalb verfolgt, sie wollten das Relikt unbedingt in ihren Besitz bringen. Mein Vater und ich haben ein Leben auf der Flucht geführt, während er mich darauf vorbereitet hat, im Ernstfall seine Aufgabe zu übernehmen. Im letzten Juni war es dann so weit: Sie haben ihn bei einer groß angelegten Suchaktion erwischt und verschleppt. Es ist ihm gerade noch rechtzeitig gelungen, seinen Fund an mich weiterzugeben und mir das Versprechen abzunehmen, ihn um jeden Preis vor der Welt verborgen zu halten, solange sie so ist, wie sie ist: kalt, berechnend und auf Zerstörung aus. Ich habe es meinem Vater versprochen, und deshalb bin ich auch nach Beekensiel gekommen. Einen besseren Unterschlupf gibt es nicht, hier ist man so gut wie am Ende der Welt.«
In seiner Not war Arjen dazu übergegangen, Pirat hinter den Ohren zu kraulen, was der Hund mit sichtlichem Genuss zuließ. Und auch Arjen gefielen die Zärtlichkeiten, das Gefühl seiner Finger im dichten Fell.
»Du glaubst mir nicht?« Es lag so viel Verletztheit und Schärfe in Rubens Stimme, dass Arjen zusammenzuckte.
»Doch. Bestimmt. Beekensiel liegt wirklich am Ende der Welt. Das war clever von dir, dich an einem solchen Ort zu verstecken. Die Nationalsozialisten regieren zwar auch bei uns ohne Abstriche, aber von der Insel ist bislang noch keiner verschleppt worden. Hier bist du in Sicherheit.«
Die entstehende Pause raubte Arjen fast den Atem. Ruben würde nicht auf diese Ausflucht hereinfallen, dafür war er zu gescheit. Als er ein Rascheln von Stoff hörte, traute er sich kaum aufzublicken. Ruben hatte in den Ausschnitt seines fadenscheinigen Hemdes gegriffen und das Lederband hervorgezogen, das immerzu um seinen Hals hing. An seinem Ende hing ein schmales Schmuckstück. Zuerst dachte Arjen, es handle sich um ein gebogenes Stück Ast, nicht länger als sein Handteller breit. Allem Anschein nach war die Rinde abgeschält worden, bis das weiße Kernholz freilag, in das jemand feine Zeichen und Muster geschnitzt hatte. Sie waren nur erkennbar, wenn man ganz genau hinsah. Arjen beugte sich dichter über das Stück, bis Rubens Fingerspitzen leicht seine Schulter berührten und ihm deuteten, den Abstand zu
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