Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
worauf Ruben hinauswollte, begriff er, dass er weder schwindelte, noch sich aufspielte. Ruben war mehr als ein Ausreißer, der die schöne Jahreszeit an der Küste verbrachte: Er hütete ein Geheimnis. »Du kannst mir vertrauen, und ich werde dir auch keine Fragen mehr stellen. Wenn du willst, kannst du mir alles erzählen oder es sein lassen, das wird nichts daran ändern, dass ich dein Freund bin.«
Eine lange Zeit sah Ruben ihn einfach nur an, keine Regung verriet, was sich hinter seiner Stirn abspielte. Die Sonne brannte auf Arjens Nacken, und er hörte, wie das Meer ihn rief. Er wollte mit Ruben an den Strand laufen, die Hosenbeine hochkrempeln und ins Wasser waten. Sie würden einander nass spritzen und lachen, Muscheln nach den frechen Möwen werfen und bei Ebbe einen Priel ins Watt graben, der nach und nach volllief. All das wollte er unbedingt tun, und es gab nur einen einzigen Menschen, mit dem er es zusammen tun konnte.
Endlich kehrte das Lächeln auf Rubens Gesicht zurück. »Komm«, sagte er. »Ich zeig’ dir, was ich mit den Essensresten vorhabe, aber sei nicht enttäuscht, wenn das große Geheimnis kein großes Geheimnis ist.«
Arjen nickte so eifrig, dass er wie eine Marionette aussehen musste, an deren Fäden geruckt wurde. Das war ihm jedoch gleichgültig. Aufgeregt lief er neben Ruben her, der sich querfeldein durch ein Birkenwäldchen schlug, wobei er sich immerzu umsah, ob vielleicht jemand ihren Weg kreuzte. Doch es tauchte niemand auf, die Erwachsenen gingen auch bei schönstem Sonnenschein ihrer Arbeit nach, und die meisten Kinder vertrieben sich die Zeit am Hafen oder am nah bei den Häusern liegenden Weststrand, wenn sie nicht ihren Eltern zur Hand gehen mussten. Die Dünen und der Wald gehörten ihnen deshalb allein, niemand von den Beekensielern sah einen Sinn darin, diesen – in ihren Augen – nutzlosen Teil der Insel aufzusuchen. In diesem Punkt täuschte Arjen sich jedoch, wie er schon bald feststellen musste, als sie auf eine Lichtung zwischen den Birken traten. Dort stand nämlich im Dickicht eine versteckte Hütte, deren Wellblechdach mit Moos überwuchert war.
Zur Begrüßung erschall zorniges Gekläffe, das jedoch sofort abbrach, als Ruben einen Pfiff ausstieß. Trotzdem verspürte Arjen das Bedürfnis, auf der Stelle kehrtzumachen, denn dem Gebell nach zu urteilen, musste es sich bei dem Hund um ein gewaltiges Tier handeln.
»Keine Sorge, das ist nur der alte Pirat, der ist halb blind und hinkt auf einem Hinterbein. Außer Rumtönen kann der nichts mehr anstellen.« Aufmunternd klopfte Ruben seinem Freund auf die Schulter. »Nun mach nicht so ein ängstliches Gesicht, der Kläffer ist angekettet.«
Ruben führte ihn zu einem steinernen Verschlag neben der Hütte, in dem ein räudig aussehender Hund kauerte. Als das Tier sich aufrichtete, war es genauso riesig, wie Arjen befürchtet hatte. Schon im nächsten Moment öffnete Ruben das Gatter und ließ den Hund heraus. Es gelang Arjen nicht, das zischende Geräusch, das direkt aus seinem Brustkorb aufstieg, zu unterdrücken. Mit hochgezogener Braue betrachtete Ruben ihn, dann drückte er ihm den Eimer mit den Essensresten in die Hand.
»Unser Pirat ist eine beeindruckende Mischung, da stecken auf jeden Fall Neufundländer und Schäferhund drin. Na, los, biete ihm das Zeug schon an. Die Hand, die ihn füttert, beißt er nicht.«
Arjen stand stocksteif da, als der dunkelbraune Pirat sich vor ihm aufbaute und interessiert an der Melange aus verbrannten Eiern, Reibekuchen und Haferflockenresten schnupperte.
»Hör mal, Arjen. Du solltest ihm das Futter anbieten, bevor er es kapert und dich wie einen Deppen aussehen lässt. Du kennst dich wohl nicht aus mit Hunden, was?«
Vorsichtig kippte Arjen den Eimer, sodass Pirat seine Schnauze reinstecken konnte. Was er auch sofort tat. Mit konzentrierter Gier verschlang er den Mischmasch. »Mein Vater mag keine Hunde, er meint, sie besäßen keinen Charakter. Außerdem würden sie stinken.«
»Das mit dem Stinken stimmt. Ab und zu jedenfalls, wenn man was Falsches verfüttert hat. Aber ansonsten sind Hunde großartig, sie stehen wirklich zu dir, egal wie es dir ergeht. Es gibt doch diesen einen Spruch …« Ruben knabberte nachdenklich auf seiner Unterlippe. »Dass mir mein Hund das Liebste sei, sagst du, oh Mensch, sei Sünde. Mein Hund ist mir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde.«
»Der Ausspruch stammt von dem heiligen Franz von Assisi«, erklärte Arjen mit der
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