Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
sein sollte.«
Arjen schüttelte den Kopf. »Mir geht es wie dir: Ich will es mit eigenen Augen sehen, um mir zu beweisen, dass es wirklich geschehen ist und nicht bloß ein Traum war. Denn so kommt es mir heute vor, als hätte ich nur geträumt. Vielleicht hätte ich es dabei belassen sollen.«
Warum? , wollte Greta nachfragen. Weil die Vergangenheit so unerreichbar weit zurückliegt, wie dieses verlassene Haus beweist? Oder weil es dich schmerzt, an Ruben zu denken? Plötzlich überkam sie eine böse Ahnung, dass die gemeinsame Zeit mit Ruben, so wunderbar sie in Arjens Erinnerungsbruchstücken auch wirkte, tiefe Narben hinterlassen hatte. Sogar sie spürte den Schmerz, der von ihnen ausging, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was ihn erzeugte. Ruben mochte für den elfjährigen Arjen für seinen ersten wahren Sommer stehen, aber von Anfang an lag bereits ein Schatten über dem Jungen, der bis in die Gegenwart reichte.
»Vielleicht sollten wir die Vergangenheit lieber ruhen lassen und in Beekensiel nur eine Station unter vielen sehen. Wenn wir schon bald weiterreisen, könnten wir es vielleicht sogar vermeiden, dass Anette plötzlich vor unserem Hotel steht. Mit der vagen Angabe, wir seien gerade auf den ostfriesischen Inseln unterwegs, wird sie sich nicht ewig zufriedengeben. Und wenn sie erst einmal spitzkriegt, dass wir uns für längere Zeit auf Beekensiel einquartiert haben, dann hält sie nichts mehr in Meresund.«
»Da wäre ich mir gar nicht so sicher, schließlich klang Anette zuletzt nicht mehr ganz so gluckig. Es würde mich nicht überraschen, wenn Wencke dir einiges über zarte Liebesbande zu berichten wüsste, wenn du das nächste Mal mit ihr telefonierst. Denn eins kannst du mir glauben: Wäre Anette nicht anderweitig beschäftigt, hätte sie uns längst gestellt.«
Greta blieb nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Arjen bekam wirklich mehr mit, als einem lieb sein konnte. »Also gut. Sollen wir es wagen?«
Mit einem Ächzen stemmte Arjen sich aus dem Sitz und richtete sich, nachdem er ausgestiegen war, zunächst die Kleidung. Obwohl er immer gepflegt auftrat, machte es heute den Anschein, als habe er besondere Sorgfalt walten lassen. Er gab ein imposantes Erscheinungsbild ab, groß und hager, die Schultern nur leicht nach vorn gebogen und das Haar schlohweiß. Es versetzte Greta allerdings einen Stich, als sie die Falten bemerkte, die Mantel und Hose warfen. Arjen war nicht mehr als Haut und Knochen. Blieb nur zu hoffen, dass sein Appetit, der mit ihrer Ankunft auf der Insel zurückgekehrt war, weiterhin anhielt.
Einen Schritt hinter ihrem Großvater folgte Greta ihm zur Reetdachkate, unter deren Türklopfer nicht einmal mehr ein Namensschild angebracht war. Seltsamerweise verstärkte sich in ihr die Wahrnehmung, es mit einem verwaisten Haus zu tun zu haben, als sie vor ihm standen, sodass es ihr schwerfiel, Bilder von einer fernen Vergangenheit in sich aufsteigen zu lassen. Nachdem es Arjen gelungen war, die verzogene Haustür aufzustemmen, schlug ihnen ein modriger Geruch entgegen, die typische Nordseemischung aus Feuchtigkeit und Salz. Die kastenförmige Diele war dunkel, der Strom abgeschaltet, doch als Arjen eine Tür aufstieß, fiel weiches Herbstlicht auf eine Holztreppe, die ins obere Stockwerk führte. Instinktiv berührte Greta den schön geschwungenen Handlauf und wäre fast die Treppe hinaufgestiegen, hätte Arjen sie nicht zurückgehalten.
»Die Kammer dort oben war Thaisens Reich, die können wir uns später ansehen. Lass uns zuerst bitte mein altes Kinderzimmer aufsuchen, bevor mich der Mut verlässt.«
Während sie das Wohnzimmer durchquerten, in dem noch einige abgewetzte Möbelstücke und ein Ofen standen, stieg eine Wärme in Greta auf, der nicht einmal die klamme Luft etwas anhaben konnte. Diese Kate mochte in einem trostlosen Zustand sein, aber in Greta löste sie trotzdem ein bislang unbekanntes Gefühl von Vertrautheit aus. Die unebene Decke mit dem Holzgebälk, die knapp über ihren Köpfen hing, der knarzende Boden und das weite Land hinter den Fenstern gaben ihr das Gefühl, angekommen zu sein. War so etwas möglich … die Erkenntnis, zu einem Haus zu gehören, als seien seine Koordinaten tief in einem verankert?
»Hast du als Kind gern in diesem Haus gewohnt?«, fragte Greta, als Arjen zögerlich vor der geschlossenen Tür stand, die offenbar in sein früheres Zimmer führte.
»Schwer zu sagen. Auf eine solche Weise habe ich als Kind nie
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