Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Regenfluten und Sommerhitze. Die Fassade hingegen zeigte eindeutige Spuren der Vernachlässigung, genau wie die Holzrahmen der Fenster, von denen der hässliche braune Lack abplatzte.
Ernst Freitag, ein Bekannter ihrer Gastwirtin Trude, arbeitete im Bürgeramt und hatte ihnen erzählt, dass die Reetdachkate bis vor gut zehn Jahren noch bewohnt gewesen war. Danach hatte sich niemand von den Beekensielern finden lassen, der in der Einsamkeit hatte leben wollen – und kauffreudige Touristen gab es auf der Insel nicht. Nach langem Hin und Her, begleitet von einigen klaren Schnäpsen und Trudes freundlichem Zureden, hatte Ernst Freitag den Schlüssel herausgerückt. »So gesehen ist es ja wie eine Besichtigung, was Sie da vorhaben. Vielleicht wollen Sie das gute Stück am Ende ja sogar erwerben, richtig? Also behalten Sie den Schlüssel ruhig ein paar Tage, es wird ihn schon keiner vermissen.« Ernst Freitags Augen hatten hinter den Brillengläsern geleuchtet, so angetan war er von seiner eigenen Gerissenheit gewesen.
Arjen erwiderte Gretas Lächeln, allerdings verhalten. Noch immer machte er keinerlei Anstalten, sich abzuschnallen.
»Noch ist Zeit zu fliehen«, versuchte Greta ihn aufzumuntern. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie bei Arjen das letzte Mal gesehen, als sie sich seinem alten Gymnasium genähert hatten. Als schlage ihm der Zusammenstoß von Vergangenheit und Gegenwart aufs Gemüt. Dabei war Arjen seit ihrer Ankunft auf Beekensiel regelrecht aufgeblüht: Sie waren am Weststrand entlanggeschlendert, hatten die Kutter im Hafen beobachtet und die Kirche besucht, die Thaisen Rosenboom auf seine unnachahmliche Art geprägt hatte. Der amtsinhabende Pastor Scheunemann war ihnen von Trude Hayden vorgestellt worden, als der Mann eines Abends im Leileckerland aß. Scheunemann war direkt einen Kopf kleiner geworden, als er hörte, dass er einem Nachfahren jenes Vorgängers gegenüberstand, von dem die kleine Beekensieler Gemeinde bis heute Anekdoten zu erzählen wusste.
Ihre bisherigen Ausflüge schienen Arjen nicht weiter bewegt zu haben: Er war interessiert und oft sogar amüsiert gewesen. Er hatte sich auch nicht aus der Ruhe bringen lassen, als eine junge Dame am Fischbrötchenstand ihm unbedingt hatte erzählen wollen, dass der Ort Beekensiel auf eine stolze Geschichte zurückblickt. Sogar während der Nazizeit sei man hier seinen eigenen Weg gegangen und habe ausschließlich die Interessen der Insel im Auge behalten – so wie man es bis heute halte. »So kann man das natürlich auch erzählen«, hatte Arjen trocken erwidert. »Aber wenn man, wie ich, in diesen Tagen dabei gewesen ist, hat die Situation doch etwas anders ausgesehen. Eine weiße Weste hatten damals nur diejenigen, die ohnehin nichts zu melden hatten. Daran hat sich ja bis heute nichts geändert.«
Mit dem Auftauchen des Reetdachs vor ihren Augen war Arjens Stimmung jedoch umgeschlagen. Worin besteht nur der Unterschied, ob er die Kirche besucht, in der sein alter Herr gepredigt hat, oder dieses Haus ?, fragte Greta sich, während Arjen gedankenverloren neben ihr auf dem Beifahrersitz saß. Beide Orte haben sein Leben geprägt, warum reagiert er so unterschiedlich?
»Mein Zimmer ging nach hinten hinaus«, sagte Arjen unwillkürlich. »Von meinem Bett aus sah ich Wiesen und den Himmel. Der Kirschbaum, in dem Ruben bis in die Spitze geklettert ist, um die prallsten Kirschen zu pflücken, stand zu weit rechts, als das ich ihn hätte sehen können. Offenbar steht er mittlerweile überhaupt nicht mehr.«
Darum ging es also! Die Reetdachkate war der erste Ort, den Arjen mit Ruben in Verbindung brachte, hier hatte Ruben ihn gelegentlich besucht, wenn Thaisen außer Haus war. Greta wunderte sich, dass sie nicht von allein darauf gekommen war. Schließlich drehten sich die wenigen Erinnerungen, von denen ihr Großvater erzählte, nicht etwa um seine Schulzeit oder um seine kostbaren Stunden mit der Haushälterin Dörchen … Sie erzählten von dem Sommer, in dem Arjen dem Ausreißer Ruben begegnet war und dessen andersartige Welt kennengelernt hatte. Deshalb waren sie auf Beekensiel – und nur deshalb.
»Ich möchte es von innen sehen. Das Haus. Dein Zimmer. Ich möchte mir nicht nur vorstellen, was du mir erzählt hast …« Greta musste sich beherrschen, um nicht allzu sehr zu drängen. »Wenn es dir lieber ist, gehe ich allein ins Haus. Ich habe einen Fotoapparat dabei, du könntest dir also die Aufnahmen später ansehen, falls dir danach zumute
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