Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
überwog ihre Sorge.
»Was auch immer du als nächstes Ziel auserkoren hast, es läuft bestimmt nicht weg«, sagte sie so leichthin wie möglich. »Es geht schon auf den Nachmittag zu, und wir sollten uns beide eine Pause gönnen. Ich könnte glatt sterben für eine Tasse Tee und Frau Trudes selbstgebackenen Apfelkuchen.«
Arjen schüttelte augenblicklich den Kopf. »Nein, ich kann mich jetzt nicht ausruhen, vollkommen unmöglich. Bitte tu mir den Gefallen und beherrsche deine plötzliche Leidenschaft für Tee noch eine Weile. Ich möchte … Ich muss zum Nordstrand, nur ein paar Schritte entlang der Wasserkante gehen, mehr nicht. Luft schnappen, das Dröhnen der Brandung hören. Ein wenig frischer Wind um die Nase wird uns beiden guttun, du siehst nämlich mindestens so blass und mitgenommen aus wie ich. Diese alten Gemäuer machen es einem auch wirklich nicht leicht.«
Ihr Großvater wollte sie um den Finger wickeln, so viel stand fest. Er wusste, was für einen mitgenommenen Eindruck er machte, aber er wusste auch, dass Greta ihn nicht bevormunden würde. »Wir fahren so dicht wie möglich mit dem Auto an den Strand und gehen dann wirklich nur ein paar Schritte. Und den Rest des Tages ruhen wir uns aus, versprochen?«
»Versprochen.« Arjen wirkte erleichtert. »Bis an den Strand fahren … Solche Worte aus deinem Mund. Klingt geradezu danach, als würde aus dir noch eine begeisterte Autofahrerin werden.«
Greta gab nur ein Murren von sich, während sie die Hand nach dem Schlüssel ausstreckte, um die Haustür hinter ihnen abzuschließen, ehe sie den Schlüssel ohne viel Aufheben einsteckte. Sie würde an einem anderen Tag allein zur Kate zurückkehren, um Aufnahmen für das Notizbuch zu machen. Und um zu überprüfen, ob diese Verbindung zwischen ihr und diesem Haus, die sich so unvermittelt und intensiv aufgebaut hatte, sich erneut einstellte. Sie hoffte es, obwohl sie sich gleichzeitig davor fürchtete. Denn was würde es bedeuten, wenn sie sich der Kate tatsächlich verbunden fühlte? Sie war auf Beekensiel, weil ihr Großvater seinen Kindheitserinnerungen nachforschte, und nicht, um sich mit ihrer Zukunft zu beschäftigen. Die musste warten, solange sie Arjen seinen Geburtstagswunsch erfüllte …
Das Meer war aufgewühlt, und sein dunkles Grau spiegelte den wolkenbehangenen Himmel. Die Wellen schlugen heftig gegen den Strand, donnerten und schäumten, als hegten sie eine Wut gegen das feste Land, das sich ihnen in den Weg stellte.
»Sollen wir zu der Ruine laufen, wo du Ruben kennengelernt hast?«
Arjen hatte die Hände tief in seinen Taschen vergraben, und mit dem hochgeschlagenen Kragen sah er aus wie ein Mann, der an die Küste gehörte: wetterfest und naturverbunden. »Von der Ruine gibt es leider nichts mehr zu sehen, die ist Jahre später bis auf die Grundmauern abgebrannt. Die Düne wird die letzten Reste dieses Ortes verschluckt haben, sodass sich die Kletterei nicht lohnen würde. Lass uns einfach an der Wasserkante entlanglaufen.«
Greta hielt dem Wind ihr Gesicht entgegen und ließ zu, dass er ihre Wangen kühlte und an ihrem Haar riss. Obwohl sie immer noch ein schlechtes Gewissen quälte, weil sie Arjens Wunsch nachgegeben hatte, war sie froh, am Nordstrand zu sein. Ihr Großvater hatte recht: Das Meer tat ihr gut in seiner rauen Schönheit, mit seinem immergleichen und doch stets wechselhaften Gesicht. Sie gestand sich sogar ein, dass ihr die Nordsee mehr zusagte als die Küste vor Kiel: der Wechsel der Gezeiten, das aufgewühlte Wasser und der Wind, der immerzu ging. Die anderen Leben, die sie bislang geführt hatte, schienen plötzlich sehr weit weg, von ihren ersten Jahren in Meresund, der harten und doch inspirierenden Zeit in Berlin bis hin zu Zürich, an das ihr die Erinnerung fast unwirklich vorkam. Selbst die Erinnerung an Erik rückte stetig in den Hintergrund. Der Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, verblasste mit jedem Tag mehr. Alle drei Lebensabschnitte hatten ihre guten und ihre schlechten Seiten gehabt, so verschieden sie sonst auch gewesen waren. Rückblickend verband sie allerdings eine Gemeinsamkeit: Ihnen hatte das Besondere gefehlt, das entscheidende verbindende Element. Das wusste sie erst jetzt, da sie die Kate besucht hatte. Man konnte ein Leben nicht bauen wie ein Haus, nein. Man trug seinen Wesenskern in sich, man musste ihn nur erkennen. Greta hatte es geahnt, in ihrer wackeligen Beziehung zu Erik, den Jobs, bei denen sie stets alles gegeben hatte, ohne sich
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