Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
mehr den Eindruck, dort angekommen zu sein, wo sie hingehörte. Die Kammer unter dem Dach bot ausreichend Platz für ein Bett, Schrank, Schreibtisch und vermutlich sogar für einen Sessel, von dem aus man zur Gaube hinausblicken konnte. Das Dachgebälk hing so niedrig, dass sie den Kopf einziehen musste, aber das machte nichts. Greta ertappte sich dabei, wie sie im Geiste bereits alles einrichtete. Sie sah sich umhergehen, eine Teetasse abstellen, um das Feuer im Ofen zu schüren, bevor sie sich in den Sessel kuschelte. Unten in der Küche bereitete jemand das Abendessen zu, jemand anderes rief nach ihr, eine junge, fordernde Stimme, doch das kümmerte sie nicht, diese ruhigen Minuten gehörten ihr und dieser Kammer. Erst wenn der Tee ausgetrunken war, wäre sie wieder ansprechbar, würde hinuntergehen und sich um ihre Familie kümmern.
»Liebes, kommst du nach unten?«, hallte es die Treppe herauf.
Es ist noch Tee in meiner Tasse , wollte sie schon rufen, als ihr klar wurde, dass die Frage von ihrem Großvater stammte und nicht von jemandem, der sich in der Küche zu schaffen machte, die sie zusammenfantasiert hatte.
Greta musste über sich selbst schmunzeln. Sie war vielleicht in mancher Hinsicht eine Idealistin, aber als Träumerin hatte sie noch nie jemand bezeichnet. Obwohl … Für einen Tagtraum hatte alles erstaunlich klar gewirkt und hatte sich ohne jegliches Wunschdenken entwickelt, mehr als handle es sich um eine Vision als um eine überspannte Fantasie. Plötzlich verging ihr das Schmunzeln, und sie fragte sich, ob sie möglicherweise eine Ahnung davon bekommen hatte, wie sich ihr Schicksal entwickeln könnte. Spannte sich ein Bogen von ihrer Ankunft in der Reetdachkate in die Zukunft? War es einer anderen Rosenboom vor ihr möglicherweise auch schon einmal genauso ergangen, dass sie mit dem Eintreten zwischen die krummen Wände der Kate einen Sinn gesehen hatte, wo vorher nur mildes Interesse am Leben auf Beekensiel gewesen war? Ich steigere mich in etwas rein , versuchte Greta ihre Überzeugung abzuschwächen. Das kommt nur daher, weil ich Arjen zu verstehen versuche, um ihm so gut wie irgend möglich zu helfen bei seiner Suche nach der Vergangenheit . Außerdem war doch allein die Vorstellung absurd, dass ausgerechnet ihre Zukunft aus Familienleben mitten im Nirgendwo bestand, nichts deutete auch nur im Entferntesten in diese Richtung. Erik hatte sich ein paarmal vorsichtig an das Thema herangetastet, ob sie sich gemeinsame Kinder vorstellen könnte, aber die Frage hatte sich falsch angefühlt … Vielleicht weil es Erik gewesen war, der sie angesprochen hatte. Vielleicht auch weil sie nicht die richtige Frau dafür war. Doch selbst diese einleuchtenden Argumente änderten nichts daran, dass ihr Tagtraum erschreckend real gewirkt hatte.
»Greta, ist bei dir alles in Ordnung, soll ich zu dir kommen?«
Ja und nein . »Entschuldige, ich habe mich in der Aussicht verloren.« Erst jetzt bemerkte sie, dass das gebogene Gaubenfenster tatsächlich eine wunderbare Aussicht aufs Meer bot, obwohl man einen ordentlichen Spaziergang von der Küste entfernt war. Magdas Kate, wie Greta das Haus bereits getauft hatte, bot einem alles: vom endlosen Himmel über Wiesen und Dünen bis hin zum Meer. Es kostete sie Mühe, sich von den Eindrücken loszureißen.
Arjen wartete am untersten Treppenabsatz und lächelte verlegen. »Ich erinnere mich nicht daran, wie die Aussicht ist. Ehrlich gesagt, wollte ich mit Thaisens Kammer möglichst wenig zu tun haben. Dort hing bis zum Schluss Magdas Morgenmantel überm Schaukelstuhl, und von meinem Vater wurde ich nur hinaufkommandiert, wenn eine Tracht Prügel anstand. Die Kraft für den Aufstieg spare ich mir deshalb lieber, die weiß ich für etwas Besseres zu gebrauchen, für unser nächstes Ausflugsziel nämlich.«
Dieser Plan gefiel Greta gar nicht. Zwar wirkte Arjen zu allen Taten bereit, aber die Schatten und Einhöhlungen auf seinem Gesicht verrieten, dass die Anstrengung, sein Elternhaus wiederzusehen, nicht spurlos an ihm vorbeigegangen war. Fast machte es den Eindruck, als brenne ein Feuer in seinem Inneren, das ihm die notwendige Antriebskraft schenkte, während es ihn zugleich aufzehrte. War er vor einigen Tagen noch davor zurückgewichen, sich seiner Vergangenheit zu stellen, so schien nun der Damm gebrochen. Es lag auf der Hand, wie sehr er sich danach sehnte, ihr weiter vom Sommer 1939 zu erzählen. Und Greta wäre auch erpicht aufs Zuhören gewesen, nur
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