Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
gedrängt. »Bislang bin ich ganz gut damit gefahren, kein solch idiotisches Risiko einzugehen. Davon abgesehen, dass du nicht die leiseste Ahnung hast, wie das ist, einen Elternteil zu verlieren und sich deshalb wie erstarrt zu fühlen.« Schlagartig verstummte Arjen. In seiner Wut hatte er nicht bloß zu viel gesagt, sondern auch noch das Falsche.
»Ich habe zugesehen, wie sie meinen Vater abgeholt haben, und ich werde ihn ganz bestimmt nicht wiedersehen. Sie haben ihn dorthin gebracht, wo sie das ganze angeblich lichtscheue und faule Gesindel hinbringen, von dort kommt keiner zurück.« So hart und verstörend diese Feststellung klang, sie trieb Ruben keine Tränen in die Augen. Trotziger denn je erwiderte er den Blick seines Freundes. »Ich hätte auch in meinem Versteck verharren können, bis mich jemand gefunden hätte, jemand, der mir gesagt hätte, was ich tun sollte. Es wäre so einfach gewesen, nichts zu tun, es hinzunehmen. Aber das habe ich nicht getan. Man muss sein Schicksal herausfordern, verstehst du?«
Mit steifen Fingern hob Ruben Arjens Hemdkragen und ließ den Walfischknochen hineingleiten. Kaum berührte der Knochen seine Haut, glaubte Arjen ein Kribbeln zu spüren, als würden sich die Zeichen einbrennen. Es liegt an der Anspannung , versuchte er sich das seltsame Gefühl zu erklären, aber überzeugt war er nicht.
»Also, Arjen. Wer willst du sein: ein Herausforderer oder so ein gewöhnlicher Hockenbleiber?«
Obwohl das Kribbeln in seiner Brust immer stärker wurde, rührte Arjen sich nicht. Hinter seiner Stirn spielten sich unzählige Szenarien ab, angefangen bei einem tollkühnen Sprung in die Wellen bis hin zur Flucht ans sichere Ufer. Doch er bewegte sich nicht, während Ruben ihn immer eindringlicher ansah. Schließlich packte sein Freund ihn und drückte ihn unter Wasser.
Eiseskälte umschloss Arjen, Salz brannte in seinen weit aufgerissenen Augen, stieg ihm in die Nase und füllte seinen Rachen. Rein instinktiv trat er um sich, ruderte mit den Armen, und ehe er es sich versah, paddelte er im hüfthohen Wasser, spuckend und schimpfend.
Ruben stand mit einem breiten Grinsen im Gesicht neben ihm, offenbar mehr als stolz auf seine Hilfestellung. »Du hast eben den Beweis erbracht, dass es auch eine Zwischenform gibt und zwar die des wartenden Herausforderers. Du und deine Zögerei. Dabei weißt du doch, was richtig ist.«
»Du Klugscheißer!« Entrüstung und Begeisterung strömten gleichzeitig durch Arjens Körper und verliehen ihm eine enorme Energie. Als habe er sich nicht noch vor einigen Sekunden davor gefürchtet, tauchte er unter und packte Rubens Fußgelenk. Mit einem entschlossenen Ruck holte er den Jungen von den Füßen, der von weißen Schlieren umfangen neben ihm ins Wasser schlug, sich spielerisch um die eigene Achse drehte, bevor er nach Luft schnappend auftauchte. Sie bespritzten einander, tauchten sich gegenseitig unter, tobten und balgten, bis ihre ausgekühlten Glieder ihnen den Dienst zu verweigern drohten. Selbst dann wollte Arjen im Wasser bleiben, es war wie ein Rausch.
Als er neben Ruben auf den Strand sank, hielt seine Energie weiterhin an. Er nestelte an dem Lederband, bis er den Walfischknochen hervorgeholt hatte, und betrachtete den bleichen Bogen mit seinen Schnitzereien. Gleich würde Ruben ihn zurückfordern, deshalb nahm er ihn vorsorglich ab. Nur konnte er sich nicht dazu durchringen, ihn weiterzureichen. Der Walfischknochen fühlte sich leicht an, fast so, als hätte er kein Gewicht. Und er nahm rasch die Körperwärme an. Wenn man die Augen schloss, ahnte man bestenfalls einen leichten Druck auf dem Handteller, eine Ahnung, dass dort etwas war.
»Der Walfischknochen … Er trägt wirklich einen Zauber in sich, nicht wahr?«, fragte Arjen schüchtern.
Ruben saß an seiner Seite, in die Betrachtung des Knochens versunken. »Du hast es also gespürt.« Keine Frage, eine Feststellung.
»Wenn man die Zeichen lesen könnte. Stell dir das nur einmal vor, Ruben. Wir könnten unsere Schicksale bestimmen! Du bräuchtest nicht länger bei Peer Hinrichs zu hausen, und ich müsste in ein paar Tagen nicht zurück auf dieses verflixte Gymnasium. Das wäre doch wunderbar.«
Anstatt ebenfalls begeistert zu sein, schnaubte Ruben nur.
»Willst du denn nicht ein besseres Leben führen?«
»Doch, unbedingt.« In Rubens Stimme schwang nicht der leiseste Zweifel mit. »Aber ich kenne mich mit der Magie des Walfischknochens nicht aus, mein Vater hat mir das Geheimnis
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