Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
verantwortlich. Schließlich hatte sie bemerkt, wie erschöpft ihr Großvater nach dem Besuch der Reetdachkate gewesen war, und trotzdem hatte sie nicht darauf bestanden, ins Hotel zurückzukehren. Weil ich ihn nicht bevormunden will, ich bin keine Fürsorge-Tyrannin wie meine Mutter , sagte sie sich. Wenn sie ehrlich war, gestand sie sich jedoch ein, dass sie Arjen hatte gewähren lassen, weil sie unbedingt die Geschichte über den roten Drachen hatte hören wollen. Sie waren beide dem Sog der Vergangenheit verfallen gewesen, nur mit dem Unterschied, dass sie danach inspiriert und energiegeladen gewesen war, während Arjen noch am Abend zu fiebern begonnen hatte. Glücklicherweise wusste er selbst als Arzt am besten, was er brauchte, und so diktierte er dem jungen Notarzt, der extra vom Festland gekommen war, die richtigen Medikamente in seinen Rezeptblock, ohne sich überhaupt untersuchen zu lassen. Offenbar war dem Notarzt diese geballte Autorität ein Tick zu viel, denn er schlug sogar ein Stück von Trudes Apfelkuchen aus, um möglichst schnell wieder wegzukommen. Zuvor hatte er Greta jedoch noch um ein Gespräch unter vier Augen gebeten.
»Auch wenn Ihr Großvater es nicht hören will: Aus so einer Erkältung kann ruck, zuck eine Lungenentzündung werden, vor allem wenn der Kranke körperlich nicht viel entgegenzusetzen hat«, hatte der Arzt Greta mitgeteilt, sichtlich in seinem Stolz verletzt, von dem älteren Kollegen dermaßen abgekanzelt worden zu sein.
»Was meinen Sie denn damit, dass Arjen körperlich nicht viel entgegenzusetzen hat? Dass er so schlank ist? Wissen Sie, er hatte zwischenzeitlich seinen Appetit verloren, aber seit wir auf Beekensiel sind, hat sich das wieder geändert.«
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen im hohen Alter das Interesse am Essen verlieren und auch ansonsten ruhebedürftiger werden, aber Ihr Großvater scheint mir ernsthaft angeschlagen zu sein. Für diese Vermutung hätte er mich fast aus dem Zimmer geworfen, dabei ist es nicht unüblich, die Meinung eines Kollegen einzuholen, selbst wenn man sein halbes Leben als Hausarzt praktiziert hat – ein Zahnarzt zieht sich ja auch nicht selbst einen Zahn. Falls Sie mein Rat interessiert: Behalten Sie seinen Zustand im Auge und überreden Sie ihn notfalls, sich einmal gründlich durchchecken zu lassen. Diese alten Knaben können nämlich ganz schön stur sein, sobald es darum geht, mal auf andere zu hören.«
Mit diesen Worten war der Arzt in den Regen hinausgelaufen und hatte Greta voller Beklemmung zurückgelassen. Sie nahm sich vor, den Rat zu befolgen und Arjen im Fall der Fälle mit Anette zu drohen – dem besten Druckmittel überhaupt. Nach zwei Nächten am Krankenlager war sie jetzt jedoch erst einmal froh, dass die Medikamente anschlugen und Arjen sich bereits auf dem Weg der Besserung befand. Sobald sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, würde sie ihre Mutter anrufen müssen, bei der sie sich schon länger nicht gemeldet hatte. Blieb zu hoffen, dass ihr während der Kaffeepause mit Trude eine Idee kam, wie viel sie Anette erzählen durfte, ohne dass man von einer Lüge sprechen konnte.
»Ach, was soll’s. Ich nehme noch zwei Zuckerstücke in den Kaffee, ansonsten komme ich wohl nicht zu mir«, gestand sie Trude, die ihren Kaffeebecher gerade zu zwei Dritteln mit Sahne aufgoss.
»Ohne Zucker wäre diese Brühe überhaupt nicht trinkbar – und das behaupte ich nicht nur, weil ich als Insulanerin eingefleischte Teetrinkerin bin. Obwohl man natürlich einen verwöhnten Gaumen hat, wenn man mit der schönen Tradition der Teetied aufwächst: ein kräftiger Assam, Kluntjes und Sahne – so gehört sich das. Das ist Lebensart und nicht dieses Sodbrennengesöff, das man auch aus Pappbechern trinken kann, ohne einen Unterschied zu bemerken. Es ist mir unbegreiflich, was die Leute nur so an Kaffee begeistert.«
»Er macht wach«, erklärte Greta sachlich.
Trude lachte. »Stimmt. Und in Ihrem Fall dürfte das auch dringend notwendig sein nach Ihren Nachtwachen. Nun ja, ich trinke das Zeug ja auch, wenn ich meine Buchhaltung auf Trab bringe, sonst würde ich über diesem Rechnungswust mir nichts, dir nichts einschlafen.« Sie deutete auf den Papierstapel, der bereits auf dem Holztisch lag.
Zu Gretas Verwunderung war die Küche überraschend großzügig angelegt, vermutlich, weil sie noch aus einer Zeit stammte, als nicht alles dem Gedanken an Funktionalität unterworfen gewesen war. Dadurch war ausreichend
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